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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Ausgleichung zwischen der Denkweise alter und neuer Zeit
angewiesen.

Dem Aeschylos gelingt ein solcher Ausgleich am leich-
testen zu eigener Befriedigung. In dem Athen der Zeit vor
den Perserkriegen aufgewachsen, hat er selbst noch Wurzeln
in dem Boden altüberlieferter Denkweise. Er bildet diese nach
den Antrieben eigenen Denkens und Empfindens zu einem
höheren Ganzen weiter; und was sich ihm so ergab als Gesetz
der sittlichen Welt, in vorbildlichen Beispielen an den Mythen
die er mit tiefem Bedacht zum Gegenstand seiner Bühnen-
dichtung erwählt, zu bestätigen, ist ihm ein Hauptanliegen seiner
Kunst. Auf die Handlung und ihren sittlichen, ja religiösen
Sinn sind alle seine Gedanken gerichtet; die Charaktere der
Handelnden werden nur von diesem Brennpunkte des Interes-
ses aus einseitig beleuchtet; die selbständige Bedeutung ihres
vollen Wesens ausserhalb der Handlung von der sie umfangen
sind, soll den Blick nicht auf sich ziehen. Er giebt uns selbst
das Recht, bei der Betrachtung seiner Dramen von der an-
schaulichen Gestaltung des Einzelnen und Besonderen, und
damit von dem eigentlich künstlerischen Gehalt, zeitweilig ab-
zusehen, um die Unterströmung allgemeiner Gedanken, das was
man die Ethik und Theologie des Dichters nennen kann, zu
ergründen.

Aeschylos lässt unter dem verzweigten Geäder seiner
dichterischen Gestaltungen das Grundgerüste ethisch-theologi-
scher Anschauungen zumeist in derben Linien, leicht erkenn-
bar, hervortreten. Er verschmilzt gegebene Grundbestandtheile
mit dem, was er aus eigenem Geiste herzubringt. Gegeben ist
ihm in den Sagen, die er mit Vorliebe dramatisch gestaltet,
und am liebsten in trilogischem, hier der Natur des Gegen-
standes unvergleichlich angemessenem Aufbau sich voll ent-
wickeln lässt, eine Geschichte, die von dem Fortwirken des
Unheils und Leides in mehreren Generationen eines Hauses,
in einer Reihe von Vater, Sohn und Enkel berichtet. Gege-
ben ist ihm auch der Glaube an solche Verkettung mensch-

Ausgleichung zwischen der Denkweise alter und neuer Zeit
angewiesen.

Dem Aeschylos gelingt ein solcher Ausgleich am leich-
testen zu eigener Befriedigung. In dem Athen der Zeit vor
den Perserkriegen aufgewachsen, hat er selbst noch Wurzeln
in dem Boden altüberlieferter Denkweise. Er bildet diese nach
den Antrieben eigenen Denkens und Empfindens zu einem
höheren Ganzen weiter; und was sich ihm so ergab als Gesetz
der sittlichen Welt, in vorbildlichen Beispielen an den Mythen
die er mit tiefem Bedacht zum Gegenstand seiner Bühnen-
dichtung erwählt, zu bestätigen, ist ihm ein Hauptanliegen seiner
Kunst. Auf die Handlung und ihren sittlichen, ja religiösen
Sinn sind alle seine Gedanken gerichtet; die Charaktere der
Handelnden werden nur von diesem Brennpunkte des Interes-
ses aus einseitig beleuchtet; die selbständige Bedeutung ihres
vollen Wesens ausserhalb der Handlung von der sie umfangen
sind, soll den Blick nicht auf sich ziehen. Er giebt uns selbst
das Recht, bei der Betrachtung seiner Dramen von der an-
schaulichen Gestaltung des Einzelnen und Besonderen, und
damit von dem eigentlich künstlerischen Gehalt, zeitweilig ab-
zusehen, um die Unterströmung allgemeiner Gedanken, das was
man die Ethik und Theologie des Dichters nennen kann, zu
ergründen.

Aeschylos lässt unter dem verzweigten Geäder seiner
dichterischen Gestaltungen das Grundgerüste ethisch-theologi-
scher Anschauungen zumeist in derben Linien, leicht erkenn-
bar, hervortreten. Er verschmilzt gegebene Grundbestandtheile
mit dem, was er aus eigenem Geiste herzubringt. Gegeben ist
ihm in den Sagen, die er mit Vorliebe dramatisch gestaltet,
und am liebsten in trilogischem, hier der Natur des Gegen-
standes unvergleichlich angemessenem Aufbau sich voll ent-
wickeln lässt, eine Geschichte, die von dem Fortwirken des
Unheils und Leides in mehreren Generationen eines Hauses,
in einer Reihe von Vater, Sohn und Enkel berichtet. Gege-
ben ist ihm auch der Glaube an solche Verkettung mensch-

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[519/0535] Ausgleichung zwischen der Denkweise alter und neuer Zeit angewiesen. Dem Aeschylos gelingt ein solcher Ausgleich am leich- testen zu eigener Befriedigung. In dem Athen der Zeit vor den Perserkriegen aufgewachsen, hat er selbst noch Wurzeln in dem Boden altüberlieferter Denkweise. Er bildet diese nach den Antrieben eigenen Denkens und Empfindens zu einem höheren Ganzen weiter; und was sich ihm so ergab als Gesetz der sittlichen Welt, in vorbildlichen Beispielen an den Mythen die er mit tiefem Bedacht zum Gegenstand seiner Bühnen- dichtung erwählt, zu bestätigen, ist ihm ein Hauptanliegen seiner Kunst. Auf die Handlung und ihren sittlichen, ja religiösen Sinn sind alle seine Gedanken gerichtet; die Charaktere der Handelnden werden nur von diesem Brennpunkte des Interes- ses aus einseitig beleuchtet; die selbständige Bedeutung ihres vollen Wesens ausserhalb der Handlung von der sie umfangen sind, soll den Blick nicht auf sich ziehen. Er giebt uns selbst das Recht, bei der Betrachtung seiner Dramen von der an- schaulichen Gestaltung des Einzelnen und Besonderen, und damit von dem eigentlich künstlerischen Gehalt, zeitweilig ab- zusehen, um die Unterströmung allgemeiner Gedanken, das was man die Ethik und Theologie des Dichters nennen kann, zu ergründen. Aeschylos lässt unter dem verzweigten Geäder seiner dichterischen Gestaltungen das Grundgerüste ethisch-theologi- scher Anschauungen zumeist in derben Linien, leicht erkenn- bar, hervortreten. Er verschmilzt gegebene Grundbestandtheile mit dem, was er aus eigenem Geiste herzubringt. Gegeben ist ihm in den Sagen, die er mit Vorliebe dramatisch gestaltet, und am liebsten in trilogischem, hier der Natur des Gegen- standes unvergleichlich angemessenem Aufbau sich voll ent- wickeln lässt, eine Geschichte, die von dem Fortwirken des Unheils und Leides in mehreren Generationen eines Hauses, in einer Reihe von Vater, Sohn und Enkel berichtet. Gege- ben ist ihm auch der Glaube an solche Verkettung mensch-

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/535>, abgerufen am 25.11.2024.