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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Auffassung aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge zu einer,
auf dem Boden philosophischen Bekenntnisses neugewonnenen
Beruhigung der Ueberzeugung. Ein Bedürfniss der Berichti-
gung oder der Bestätigung der von den Vätern überlieferten
Meinungen war lebhaft erwacht; noch war es allein die Dich-
tung, die das Licht ihrer Belehrung weit genug warf, um die
Gedanken breiter Volksschaaren erhellen zu können. Ihre Ein-
wirkung musste in dem Maasse zunehmen als die Kreise der
Theilnehmenden sich weiter ausdehnten, an die, nach der be-
sonderen Art ihrer Darbietungen, sie sich wenden konnte.
Darf man schon den Einfluss, den auch als Lehrer des Volks
Pindar, der panhellenische Festdichter, ausüben konnte, nicht
gering anschlagen, so war vollends, bei geringerer räumlicher
Ausbreitung, in der um so vieles grösseren, an einem Orte
zusammengeströmten Volksmenge, vor der die attischen Tra-
giker
ihre Dichtungen sich entwickeln lassen durften, der
Aussaat fruchtbarer Gedanken das breiteste Feld geboten.
Sie selbst lassen vielfach merken, wie sehr sie sich als Lehrer
dieser Volksschaaren fühlen; das Volk liess sie als solche gel-
ten, ja, es erwartete und forderte von dem Dichterworte Be-
lehrung, die höchste von der erhabensten Dichtung1). Wir
werden nicht irren, wenn wir annehmen, dass Ansichten und
Einsichten, denen Aeschylos, Sophokles und nicht am wenigsten
Euripides in/choice> ihren tragischen Festspielen Worte leihen, nicht
alleiniges Eigenthum des Einzelnen blieben, in dessen Geiste
sie entstanden waren.

4.

Die attische Tragödie des fünften Jahrhunderts musste
sich, selbst wenn dichterische Absicht sie nicht dahin gelenkt
hätte, entwickeln zu einem Kunstwerk psychologischen Gehal-

1) Nur die Volksmeinung wird, in besonders naivem Ausdruck, formu-
lirt bei Aristophanes, Ran. 1030: -- tauta gar andras khre poietas askein
skepsai gar ap arkhes, os ophelimoi ton poieton oi gennaioi gegenentai
ktl. Und 1054 ff. (dort im besondern von den Tragikern): apokruptein khre
to poneron ton ge poieten, kai me paragein mede didaskein. tois men gar
paidarioisin esti didaskalos ostis phrazei, tois ebosin de poietai.

Auffassung aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge zu einer,
auf dem Boden philosophischen Bekenntnisses neugewonnenen
Beruhigung der Ueberzeugung. Ein Bedürfniss der Berichti-
gung oder der Bestätigung der von den Vätern überlieferten
Meinungen war lebhaft erwacht; noch war es allein die Dich-
tung, die das Licht ihrer Belehrung weit genug warf, um die
Gedanken breiter Volksschaaren erhellen zu können. Ihre Ein-
wirkung musste in dem Maasse zunehmen als die Kreise der
Theilnehmenden sich weiter ausdehnten, an die, nach der be-
sonderen Art ihrer Darbietungen, sie sich wenden konnte.
Darf man schon den Einfluss, den auch als Lehrer des Volks
Pindar, der panhellenische Festdichter, ausüben konnte, nicht
gering anschlagen, so war vollends, bei geringerer räumlicher
Ausbreitung, in der um so vieles grösseren, an einem Orte
zusammengeströmten Volksmenge, vor der die attischen Tra-
giker
ihre Dichtungen sich entwickeln lassen durften, der
Aussaat fruchtbarer Gedanken das breiteste Feld geboten.
Sie selbst lassen vielfach merken, wie sehr sie sich als Lehrer
dieser Volksschaaren fühlen; das Volk liess sie als solche gel-
ten, ja, es erwartete und forderte von dem Dichterworte Be-
lehrung, die höchste von der erhabensten Dichtung1). Wir
werden nicht irren, wenn wir annehmen, dass Ansichten und
Einsichten, denen Aeschylos, Sophokles und nicht am wenigsten
Euripides in/choice> ihren tragischen Festspielen Worte leihen, nicht
alleiniges Eigenthum des Einzelnen blieben, in dessen Geiste
sie entstanden waren.

4.

Die attische Tragödie des fünften Jahrhunderts musste
sich, selbst wenn dichterische Absicht sie nicht dahin gelenkt
hätte, entwickeln zu einem Kunstwerk psychologischen Gehal-

1) Nur die Volksmeinung wird, in besonders naivem Ausdruck, formu-
lirt bei Aristophanes, Ran. 1030: — ταῦτα γὰρ ἄνδρας χρὴ ποιητὰς ἀσκεῖν
σκέψαι γὰρ ἀπ̕ ἀρχῆς, ὡς ὠφέλιμοι τῶν ποιητῶν οἱ γενναῖοι γεγένηνται
κτλ. Und 1054 ff. (dort im besondern von den Tragikern): ἀποκρύπτειν χρὴ
τὸ πονηρὸν τόν γε ποιητήν, καὶ μὴ παράγειν μηδὲ διδάσκειν. τοῖς μὲν γὰρ
παιδαρίοισιν ἔστι διδάσκαλος ὅστις φράζει, τοῖς ἡβῶσιν δὲ ποιηταί.
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[516/0532] Auffassung aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge zu einer, auf dem Boden philosophischen Bekenntnisses neugewonnenen Beruhigung der Ueberzeugung. Ein Bedürfniss der Berichti- gung oder der Bestätigung der von den Vätern überlieferten Meinungen war lebhaft erwacht; noch war es allein die Dich- tung, die das Licht ihrer Belehrung weit genug warf, um die Gedanken breiter Volksschaaren erhellen zu können. Ihre Ein- wirkung musste in dem Maasse zunehmen als die Kreise der Theilnehmenden sich weiter ausdehnten, an die, nach der be- sonderen Art ihrer Darbietungen, sie sich wenden konnte. Darf man schon den Einfluss, den auch als Lehrer des Volks Pindar, der panhellenische Festdichter, ausüben konnte, nicht gering anschlagen, so war vollends, bei geringerer räumlicher Ausbreitung, in der um so vieles grösseren, an einem Orte zusammengeströmten Volksmenge, vor der die attischen Tra- giker ihre Dichtungen sich entwickeln lassen durften, der Aussaat fruchtbarer Gedanken das breiteste Feld geboten. Sie selbst lassen vielfach merken, wie sehr sie sich als Lehrer dieser Volksschaaren fühlen; das Volk liess sie als solche gel- ten, ja, es erwartete und forderte von dem Dichterworte Be- lehrung, die höchste von der erhabensten Dichtung 1). Wir werden nicht irren, wenn wir annehmen, dass Ansichten und Einsichten, denen Aeschylos, Sophokles und nicht am wenigsten Euripides in/choice> ihren tragischen Festspielen Worte leihen, nicht alleiniges Eigenthum des Einzelnen blieben, in dessen Geiste sie entstanden waren. 4. Die attische Tragödie des fünften Jahrhunderts musste sich, selbst wenn dichterische Absicht sie nicht dahin gelenkt hätte, entwickeln zu einem Kunstwerk psychologischen Gehal- 1) Nur die Volksmeinung wird, in besonders naivem Ausdruck, formu- lirt bei Aristophanes, Ran. 1030: — ταῦτα γὰρ ἄνδρας χρὴ ποιητὰς ἀσκεῖν σκέψαι γὰρ ἀπ̕ ἀρχῆς, ὡς ὠφέλιμοι τῶν ποιητῶν οἱ γενναῖοι γεγένηνται κτλ. Und 1054 ff. (dort im besondern von den Tragikern): ἀποκρύπτειν χρὴ τὸ πονηρὸν τόν γε ποιητήν, καὶ μὴ παράγειν μηδὲ διδάσκειν. τοῖς μὲν γὰρ παιδαρίοισιν ἔστι διδάσκαλος ὅστις φράζει, τοῖς ἡβῶσιν δὲ ποιηταί.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 516. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/532>, abgerufen am 25.11.2024.