eine lehrende, erziehende Einwirkung von ihm erwartete. Der Dichter sollte der Lehrer des Volkes sein, zu dem, in griechi- schen Lebensverhältnissen, Niemand sonst als Lehrer sprach. Im höchsten Sinne sollte er belehren, wo seine Rede, in er- habener Poesie, auf die Fragen und Gewissheiten der Reli- gion deutete, und auf das Verhältniss der Sittlichkeit zur Religion. Hier konnte er durch die Betrachtung seines tief- blickenden Geistes ergänzen, was der Mangel eines religiös bestätigten Grundbuches der Volksmoral vermissen liess. Den Gemeinbesitz sittlicher Gedanken, der sich im bürgerlichen Leben herausgebildet hat, begründet der Dichter fester, indem er ihm fasslichen, unvergesslichen Ausdruck, festere Zusammen- fügung zum Ganzen giebt. Er kann auch die Gedanken der Volksmoral weiterführen und vertiefen, in dem Feuer strenge- ren Sinnes härten, aus dem Geiste eines erhabeneren Gottes- verständnisses läutern und erläutern. Und was er dann, mit dem Stempel seiner ganz persönlichen Art und Meinung ge- prägt, dem Volke zurückgiebt, das wird nicht flüchtige Ansicht eines Einzelnen bleiben, sondern in empfänglichen Gemüthern Wurzel schlagen und von Vielen zu dauerndem Besitze in den Schatz ihrer Ueberzeugungen aufgenommen werden.
Erst die voll ausgewachsene, zu einer alles umfassenden Lebensdeutung entwickelte Philosophie einer späteren Zeit hat die Dichtung in diesem Amte einer Lehrmeisterin der Strebenden im Volke abgelöst1). Von jeher zwar, niemals aber so nachdrücklich und mit so voll bewusster Absicht hat die Dichtung dieses Amtes walten wollen, wie in der Zeit des Ueberganges -- an deren Anfang schon Pindar steht -- des Ueberganges von unbefangenem Vertrauen auf die überlieferte
1) Noch Plato lässt in seiner heftigen Bekämpfung der Dichter und Dichtung -- in der doch nach ihm ouden spoudes kharin, alla paidias eneka panta dratai -- erkennen, dass die altgriechische Meinung, die rechten Lehrer des Volkes seien eben die Dichter, auch zu seiner Zeit noch keineswegs abgethan war. Denn eben als Lehrer verstanden oder missverstanden, scheinen sie ihm gefährlich und bekämpfenswerth.
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eine lehrende, erziehende Einwirkung von ihm erwartete. Der Dichter sollte der Lehrer des Volkes sein, zu dem, in griechi- schen Lebensverhältnissen, Niemand sonst als Lehrer sprach. Im höchsten Sinne sollte er belehren, wo seine Rede, in er- habener Poesie, auf die Fragen und Gewissheiten der Reli- gion deutete, und auf das Verhältniss der Sittlichkeit zur Religion. Hier konnte er durch die Betrachtung seines tief- blickenden Geistes ergänzen, was der Mangel eines religiös bestätigten Grundbuches der Volksmoral vermissen liess. Den Gemeinbesitz sittlicher Gedanken, der sich im bürgerlichen Leben herausgebildet hat, begründet der Dichter fester, indem er ihm fasslichen, unvergesslichen Ausdruck, festere Zusammen- fügung zum Ganzen giebt. Er kann auch die Gedanken der Volksmoral weiterführen und vertiefen, in dem Feuer strenge- ren Sinnes härten, aus dem Geiste eines erhabeneren Gottes- verständnisses läutern und erläutern. Und was er dann, mit dem Stempel seiner ganz persönlichen Art und Meinung ge- prägt, dem Volke zurückgiebt, das wird nicht flüchtige Ansicht eines Einzelnen bleiben, sondern in empfänglichen Gemüthern Wurzel schlagen und von Vielen zu dauerndem Besitze in den Schatz ihrer Ueberzeugungen aufgenommen werden.
Erst die voll ausgewachsene, zu einer alles umfassenden Lebensdeutung entwickelte Philosophie einer späteren Zeit hat die Dichtung in diesem Amte einer Lehrmeisterin der Strebenden im Volke abgelöst1). Von jeher zwar, niemals aber so nachdrücklich und mit so voll bewusster Absicht hat die Dichtung dieses Amtes walten wollen, wie in der Zeit des Ueberganges — an deren Anfang schon Pindar steht — des Ueberganges von unbefangenem Vertrauen auf die überlieferte
1) Noch Plato lässt in seiner heftigen Bekämpfung der Dichter und Dichtung — in der doch nach ihm οὐδὲν σπουδῆς χάριν, ἀλλὰ παιδιᾶς ἕνεκα πάντα δρᾶται — erkennen, dass die altgriechische Meinung, die rechten Lehrer des Volkes seien eben die Dichter, auch zu seiner Zeit noch keineswegs abgethan war. Denn eben als Lehrer verstanden oder missverstanden, scheinen sie ihm gefährlich und bekämpfenswerth.
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eine lehrende, erziehende Einwirkung von ihm erwartete. Der
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Im höchsten Sinne sollte er belehren, wo seine Rede, in er-
habener Poesie, auf die Fragen und Gewissheiten der Reli-
gion deutete, und auf das Verhältniss der Sittlichkeit zur
Religion. Hier konnte er durch die Betrachtung seines tief-
blickenden Geistes ergänzen, was der Mangel eines religiös
bestätigten Grundbuches der Volksmoral vermissen liess. Den
Gemeinbesitz sittlicher Gedanken, der sich im bürgerlichen
Leben herausgebildet hat, begründet der Dichter fester, indem
er ihm fasslichen, unvergesslichen Ausdruck, festere Zusammen-
fügung zum Ganzen giebt. Er kann auch die Gedanken der
Volksmoral weiterführen und vertiefen, in dem Feuer strenge-
ren Sinnes härten, aus dem Geiste eines erhabeneren Gottes-
verständnisses läutern und erläutern. Und was er dann, mit
dem Stempel seiner ganz persönlichen Art und Meinung ge-
prägt, dem Volke zurückgiebt, das wird nicht flüchtige Ansicht
eines Einzelnen bleiben, sondern in empfänglichen Gemüthern
Wurzel schlagen und von Vielen zu dauerndem Besitze in den
Schatz ihrer Ueberzeugungen aufgenommen werden.
Erst die voll ausgewachsene, zu einer alles umfassenden
Lebensdeutung entwickelte Philosophie einer späteren Zeit
hat die Dichtung in diesem Amte einer Lehrmeisterin der
Strebenden im Volke abgelöst 1). Von jeher zwar, niemals aber
so nachdrücklich und mit so voll bewusster Absicht hat die
Dichtung dieses Amtes walten wollen, wie in der Zeit des
Ueberganges — an deren Anfang schon Pindar steht — des
Ueberganges von unbefangenem Vertrauen auf die überlieferte
1) Noch Plato lässt in seiner heftigen Bekämpfung der Dichter und
Dichtung — in der doch nach ihm οὐδὲν σπουδῆς χάριν, ἀλλὰ παιδιᾶς
ἕνεκα πάντα δρᾶται — erkennen, dass die altgriechische Meinung, die
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/531>, abgerufen am 22.11.2024.
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