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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Selbst die Herkömmlichkeiten des Seelencultes scheinen
hier unmuthig verworfen zu werden. Im Uebrigen hat die
freier umblickende Betrachtung der Dichter selten Veranlas-
sung, des Seelencults, den die engeren Genossenschaften der
Familie und der bürgerlichen Gemeinde ihren Verstorbenen
widmen, und der auf ihn begründeten Vorstellungen vom
Fortleben ihrer Abgeschiedenen zu gedenken. Hier treten er-
gänzend die attischen Redner des fünften und vierten Jahr-
hunderts ein mit dem, was sie von den jenseitigen Dingen sa-
gen und verschweigen. Die Blüthe der lyrischen Dichtung war
damals schon abgewelkt, aber noch immer konnte, wer als
Redner vor einer Bürgerversammlung allgemeinem Verständniss
und Empfinden entgegenkommen wollte, von seliger Unsterb-
lichkeit, von Ewigkeit und Göttlichkeit der Seele nicht reden.
Ueber die Vorstellungen von Fortdauer, Macht und Recht
der abgeschiedenen Seelen, wie sie der Seelencult hervorrief
und lebendig erhielt, gehen die Gedanken der Redner nicht
hinaus 1). Nicht ein Fortleben der Seelen im Jenseits wird in
Frage gestellt, wohl aber wird die Annahme, dass den Seelen
Bewusstsein und Empfindung von den Vorgängen auf dieser
Erde bleibe, nur mit vorsichtiger Unbestimmtheit ausge-
sprochen 2). Was den Todten, abgesehen von den Opfergaben

noimen, pleion emeres mies. -- Stesichor. 51: atelestata gar kai amakhana tous
thanontas klaiein. 52: thanontos andros pas apollutai pot anthropon kharis.
1) Dies ergiebt sich leicht, wenn man durchmustert, was H. Meuss
über "die Vorstellungen vom Dasein nach dem Tode bei den attischen
Rednern" zusammengestellt hat, Jahrb. f. Philol. 1889 p. 801--815. Für
den Seelencult und was sich ihm anschliesst, sind die Redner die gültig-
sten Zeugen, und als solche in den hierauf bezüglichen Abschnitten dieses
Buches vielfach vernommen worden.
2) ei tines ton teteleutekoton laboien tropo tini tou nun gignomenou
pragmatos aisthesin: so und ähnlich oft. Die Stellen citirt Westermann zu
Demosth. g. Leptin. 87. Vgl. auch Lehrs, Popul. Aufs. 329 ff. Es han-
delt sich übrigens immer nur um die Fähigkeit der Todten, Dinge die
auf der Erde geschehen, irgendwie zu vernehmen. Das Fortleben der
Todten wird nicht in Frage gestellt, vielmehr durchweg vorausgesetzt,
denn ohne diese Voraussetzung wäre ja nicht einmal für ein solches ei
-- eine Möglichkeit gegeben.

Selbst die Herkömmlichkeiten des Seelencultes scheinen
hier unmuthig verworfen zu werden. Im Uebrigen hat die
freier umblickende Betrachtung der Dichter selten Veranlas-
sung, des Seelencults, den die engeren Genossenschaften der
Familie und der bürgerlichen Gemeinde ihren Verstorbenen
widmen, und der auf ihn begründeten Vorstellungen vom
Fortleben ihrer Abgeschiedenen zu gedenken. Hier treten er-
gänzend die attischen Redner des fünften und vierten Jahr-
hunderts ein mit dem, was sie von den jenseitigen Dingen sa-
gen und verschweigen. Die Blüthe der lyrischen Dichtung war
damals schon abgewelkt, aber noch immer konnte, wer als
Redner vor einer Bürgerversammlung allgemeinem Verständniss
und Empfinden entgegenkommen wollte, von seliger Unsterb-
lichkeit, von Ewigkeit und Göttlichkeit der Seele nicht reden.
Ueber die Vorstellungen von Fortdauer, Macht und Recht
der abgeschiedenen Seelen, wie sie der Seelencult hervorrief
und lebendig erhielt, gehen die Gedanken der Redner nicht
hinaus 1). Nicht ein Fortleben der Seelen im Jenseits wird in
Frage gestellt, wohl aber wird die Annahme, dass den Seelen
Bewusstsein und Empfindung von den Vorgängen auf dieser
Erde bleibe, nur mit vorsichtiger Unbestimmtheit ausge-
sprochen 2). Was den Todten, abgesehen von den Opfergaben

νοῖμεν, πλεῖον ἡμέρης μιῆς. — Stesichor. 51: ἀτελέστατα γὰρ καὶ ἀμάχανα τοὺς
ϑανόντας κλαίειν. 52: ϑανόντος ἀνδρὸς πᾶσ̕ ἀπόλλυται ποτ̕ ἀνϑρώπων χάρις.
1) Dies ergiebt sich leicht, wenn man durchmustert, was H. Meuss
über „die Vorstellungen vom Dasein nach dem Tode bei den attischen
Rednern“ zusammengestellt hat, Jahrb. f. Philol. 1889 p. 801—815. Für
den Seelencult und was sich ihm anschliesst, sind die Redner die gültig-
sten Zeugen, und als solche in den hierauf bezüglichen Abschnitten dieses
Buches vielfach vernommen worden.
2) εἴ τινες τῶν τετελευτηκότων λάβοιεν τρόπῳ τινὶ τοῦ νῦν γιγνομένου
πράγματος αἴσϑησιν: so und ähnlich oft. Die Stellen citirt Westermann zu
Demosth. g. Leptin. 87. Vgl. auch Lehrs, Popul. Aufs. 329 ff. Es han-
delt sich übrigens immer nur um die Fähigkeit der Todten, Dinge die
auf der Erde geschehen, irgendwie zu vernehmen. Das Fortleben der
Todten wird nicht in Frage gestellt, vielmehr durchweg vorausgesetzt,
denn ohne diese Voraussetzung wäre ja nicht einmal für ein solches εἰ
— eine Möglichkeit gegeben.
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[494/0510] Selbst die Herkömmlichkeiten des Seelencultes scheinen hier unmuthig verworfen zu werden. Im Uebrigen hat die freier umblickende Betrachtung der Dichter selten Veranlas- sung, des Seelencults, den die engeren Genossenschaften der Familie und der bürgerlichen Gemeinde ihren Verstorbenen widmen, und der auf ihn begründeten Vorstellungen vom Fortleben ihrer Abgeschiedenen zu gedenken. Hier treten er- gänzend die attischen Redner des fünften und vierten Jahr- hunderts ein mit dem, was sie von den jenseitigen Dingen sa- gen und verschweigen. Die Blüthe der lyrischen Dichtung war damals schon abgewelkt, aber noch immer konnte, wer als Redner vor einer Bürgerversammlung allgemeinem Verständniss und Empfinden entgegenkommen wollte, von seliger Unsterb- lichkeit, von Ewigkeit und Göttlichkeit der Seele nicht reden. Ueber die Vorstellungen von Fortdauer, Macht und Recht der abgeschiedenen Seelen, wie sie der Seelencult hervorrief und lebendig erhielt, gehen die Gedanken der Redner nicht hinaus 1). Nicht ein Fortleben der Seelen im Jenseits wird in Frage gestellt, wohl aber wird die Annahme, dass den Seelen Bewusstsein und Empfindung von den Vorgängen auf dieser Erde bleibe, nur mit vorsichtiger Unbestimmtheit ausge- sprochen 2). Was den Todten, abgesehen von den Opfergaben 5) 1) Dies ergiebt sich leicht, wenn man durchmustert, was H. Meuss über „die Vorstellungen vom Dasein nach dem Tode bei den attischen Rednern“ zusammengestellt hat, Jahrb. f. Philol. 1889 p. 801—815. Für den Seelencult und was sich ihm anschliesst, sind die Redner die gültig- sten Zeugen, und als solche in den hierauf bezüglichen Abschnitten dieses Buches vielfach vernommen worden. 2) εἴ τινες τῶν τετελευτηκότων λάβοιεν τρόπῳ τινὶ τοῦ νῦν γιγνομένου πράγματος αἴσϑησιν: so und ähnlich oft. Die Stellen citirt Westermann zu Demosth. g. Leptin. 87. Vgl. auch Lehrs, Popul. Aufs. 329 ff. Es han- delt sich übrigens immer nur um die Fähigkeit der Todten, Dinge die auf der Erde geschehen, irgendwie zu vernehmen. Das Fortleben der Todten wird nicht in Frage gestellt, vielmehr durchweg vorausgesetzt, denn ohne diese Voraussetzung wäre ja nicht einmal für ein solches εἰ — eine Möglichkeit gegeben. 5) νοῖμεν, πλεῖον ἡμέρης μιῆς. — Stesichor. 51: ἀτελέστατα γὰρ καὶ ἀμάχανα τοὺς ϑανόντας κλαίειν. 52: ϑανόντος ἀνδρὸς πᾶσ̕ ἀπόλλυται ποτ̕ ἀνϑρώπων χάρις.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 494. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/510>, abgerufen am 22.11.2024.