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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Lauter und schmerzlicher tönt in diesen Zeiten unter dem
Drucke einer, alle Empfindung schärfer eingrabenden Steige-
rung der Cultur, die Klage um Mühsal und Noth des Lebens,
die Dunkelheit seiner Wege und die Ungewissheit seiner Er-
folge 1). Silen, der hellsichtige Waldgeist, so ging alte Sage,
hatte vom König Midas, der ihn in seinen Rosengärten am
Bermios fing, sich gelöst mit dem Wahrspruch schwermüthiger
Weisheit, den man in wechselnder Gestaltung sich einzuprägen
nicht müde wurde: nicht geboren zu werden, sei dem Menschen
das Beste, und sei er geboren, so müsse er wünschen, so
bald als möglich in das Reich der Nacht 2) und des Hades
wiedereinzugehn 3). Die Freudigkeit des Lebens im Lichte ist
nicht mehr, in naiver Zuversicht, ihrer selbst so gewiss wie
einst; dennoch wird kein Ersatz, keine Ausgleichung gesucht
in einem jenseitigen Reiche der Gerechtigkeit und des mühe-
losen Glücks. Eher klingt eine Stimmung vor, der die Ruhe
das beste scheint von allem Glück der Welt: und Ruhe bringt
der Tod. Aber noch bedarf es kaum der Tröstungen; ein
starkes männliches Lebensgefühl, das auch das Böse und
Schwere im Gleichmuth der Gesundheit trägt und austrägt,

cult. Aber man darf auch glauben, dass das menschlich natürliche Ge-
fühl, dass nicht ganz im Tode verschwindet, wem Kinder auf Erden
nachbleiben (daher aeigenes esti kai athanaton os thneto e gennesis nach
Plato's Wort) bei solcher Werthschätzung des Kindersegens mitwirkte.
Dies giebt ja auch dem unter Griechen weitverbreiteten Glauben, dass der
Frevler, nach seinem Tode, in seinen Kindern und Kindeskindern gestraft,
noch selbst von der Strafe getroffen werde, erst Sinn und Begründung.
1) Semonid. Amorg. 1; 3; Mimnerm. 2. Sol. 13, 63 ff. 14. Theognis
167 f. 425 ff. Man darf auch die resignirten Betrachtungen bei Herodot
7, 46; 1, 31 hier anfügen.
2) Nuktos thalamos [Ion.] fr. 8, 2.
3) Ueber die Sage von Midas und dem Silen s. Griech. Roman.
p. 204 f. Ueber den alten, vielfach variirten Spruch: arkhen (oder: pan-
ton) men me phunai epikhthonioisin ariston ktl. s. Bergk, Opusc. 2, 214 f., Lyr.4
II p. 155 f.; Nietzsche, Rhein. Mus. 28, 212 ff. (dessen Annahme, dass der
Anfang arkhen -- alt und ursprünglich sei [nur nicht seine verwickelte
Erklärung dafür] sich völlig bestätigt hat durch den Fund der Urform
des agon: Mahaffy On the Flinders Petrie Papyri p. 70).

Lauter und schmerzlicher tönt in diesen Zeiten unter dem
Drucke einer, alle Empfindung schärfer eingrabenden Steige-
rung der Cultur, die Klage um Mühsal und Noth des Lebens,
die Dunkelheit seiner Wege und die Ungewissheit seiner Er-
folge 1). Silen, der hellsichtige Waldgeist, so ging alte Sage,
hatte vom König Midas, der ihn in seinen Rosengärten am
Bermios fing, sich gelöst mit dem Wahrspruch schwermüthiger
Weisheit, den man in wechselnder Gestaltung sich einzuprägen
nicht müde wurde: nicht geboren zu werden, sei dem Menschen
das Beste, und sei er geboren, so müsse er wünschen, so
bald als möglich in das Reich der Nacht 2) und des Hades
wiedereinzugehn 3). Die Freudigkeit des Lebens im Lichte ist
nicht mehr, in naiver Zuversicht, ihrer selbst so gewiss wie
einst; dennoch wird kein Ersatz, keine Ausgleichung gesucht
in einem jenseitigen Reiche der Gerechtigkeit und des mühe-
losen Glücks. Eher klingt eine Stimmung vor, der die Ruhe
das beste scheint von allem Glück der Welt: und Ruhe bringt
der Tod. Aber noch bedarf es kaum der Tröstungen; ein
starkes männliches Lebensgefühl, das auch das Böse und
Schwere im Gleichmuth der Gesundheit trägt und austrägt,

cult. Aber man darf auch glauben, dass das menschlich natürliche Ge-
fühl, dass nicht ganz im Tode verschwindet, wem Kinder auf Erden
nachbleiben (daher ἀειγενές ἐστι καὶ ἀϑάνατον ὡς ϑνητῷ ἡ γέννησις nach
Plato’s Wort) bei solcher Werthschätzung des Kindersegens mitwirkte.
Dies giebt ja auch dem unter Griechen weitverbreiteten Glauben, dass der
Frevler, nach seinem Tode, in seinen Kindern und Kindeskindern gestraft,
noch selbst von der Strafe getroffen werde, erst Sinn und Begründung.
1) Semonid. Amorg. 1; 3; Mimnerm. 2. Sol. 13, 63 ff. 14. Theognis
167 f. 425 ff. Man darf auch die resignirten Betrachtungen bei Herodot
7, 46; 1, 31 hier anfügen.
2) Νυκτὸς ϑάλαμος [Ion.] fr. 8, 2.
3) Ueber die Sage von Midas und dem Silen s. Griech. Roman.
p. 204 f. Ueber den alten, vielfach variirten Spruch: ἀρχὴν (oder: πάν-
των) μὲν μὴ φῦναι ἐπιχϑονίοισιν ἄριστον κτλ. s. Bergk, Opusc. 2, 214 f., Lyr.4
II p. 155 f.; Nietzsche, Rhein. Mus. 28, 212 ff. (dessen Annahme, dass der
Anfang ἀρχὴν — alt und ursprünglich sei [nur nicht seine verwickelte
Erklärung dafür] sich völlig bestätigt hat durch den Fund der Urform
des ἀγών: Mahaffy On the Flinders Petrie Papyri p. 70).
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[492/0508] Lauter und schmerzlicher tönt in diesen Zeiten unter dem Drucke einer, alle Empfindung schärfer eingrabenden Steige- rung der Cultur, die Klage um Mühsal und Noth des Lebens, die Dunkelheit seiner Wege und die Ungewissheit seiner Er- folge 1). Silen, der hellsichtige Waldgeist, so ging alte Sage, hatte vom König Midas, der ihn in seinen Rosengärten am Bermios fing, sich gelöst mit dem Wahrspruch schwermüthiger Weisheit, den man in wechselnder Gestaltung sich einzuprägen nicht müde wurde: nicht geboren zu werden, sei dem Menschen das Beste, und sei er geboren, so müsse er wünschen, so bald als möglich in das Reich der Nacht 2) und des Hades wiedereinzugehn 3). Die Freudigkeit des Lebens im Lichte ist nicht mehr, in naiver Zuversicht, ihrer selbst so gewiss wie einst; dennoch wird kein Ersatz, keine Ausgleichung gesucht in einem jenseitigen Reiche der Gerechtigkeit und des mühe- losen Glücks. Eher klingt eine Stimmung vor, der die Ruhe das beste scheint von allem Glück der Welt: und Ruhe bringt der Tod. Aber noch bedarf es kaum der Tröstungen; ein starkes männliches Lebensgefühl, das auch das Böse und Schwere im Gleichmuth der Gesundheit trägt und austrägt, 6) 1) Semonid. Amorg. 1; 3; Mimnerm. 2. Sol. 13, 63 ff. 14. Theognis 167 f. 425 ff. Man darf auch die resignirten Betrachtungen bei Herodot 7, 46; 1, 31 hier anfügen. 2) Νυκτὸς ϑάλαμος [Ion.] fr. 8, 2. 3) Ueber die Sage von Midas und dem Silen s. Griech. Roman. p. 204 f. Ueber den alten, vielfach variirten Spruch: ἀρχὴν (oder: πάν- των) μὲν μὴ φῦναι ἐπιχϑονίοισιν ἄριστον κτλ. s. Bergk, Opusc. 2, 214 f., Lyr.4 II p. 155 f.; Nietzsche, Rhein. Mus. 28, 212 ff. (dessen Annahme, dass der Anfang ἀρχὴν — alt und ursprünglich sei [nur nicht seine verwickelte Erklärung dafür] sich völlig bestätigt hat durch den Fund der Urform des ἀγών: Mahaffy On the Flinders Petrie Papyri p. 70). 6) cult. Aber man darf auch glauben, dass das menschlich natürliche Ge- fühl, dass nicht ganz im Tode verschwindet, wem Kinder auf Erden nachbleiben (daher ἀειγενές ἐστι καὶ ἀϑάνατον ὡς ϑνητῷ ἡ γέννησις nach Plato’s Wort) bei solcher Werthschätzung des Kindersegens mitwirkte. Dies giebt ja auch dem unter Griechen weitverbreiteten Glauben, dass der Frevler, nach seinem Tode, in seinen Kindern und Kindeskindern gestraft, noch selbst von der Strafe getroffen werde, erst Sinn und Begründung.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/508>, abgerufen am 22.11.2024.