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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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gebildet und gebaut war, sind unvergänglich und neuen Bil-
dungen vorbehalten, seine Persönlichkeit aber, wie seine sicht-
bare so seine unsichtbare, seine "Seele", hat nur ein einmaliges,
zeitlich begrenztes Dasein. Eine Fortdauer der Seele nach
dem Tode, eine Unsterblichkeit, in welchem Sinne man sie
auch verstehen mag, wird hier zum ersten Male in der Ge-
schichte des griechischen Denkens ausdrücklich geleugnet; der
Atomist zieht mit der ehrlichen Bestimmtheit, die ihn aus-
zeichnet, die Consequenzen seiner Voraussetzungen.

Anaxagoras schlägt dieser materialistischen Lehre fast
entgegengesetzte Wege ein. Als erster entschiedener und be-
wusster Dualist unter den griechischen Denkern, setzt er dem
materiellen Untergrund des Seins, der unendlichen Menge der
nach ihren Eigenschaften bestimmten und von einander ver-
schiedenen, ununterscheidbar aber durch einander gemischten
"Saamen" der Dinge eine Kraft gegenüber, die er offenbar aus
ihnen nicht abzuleiten wusste, benannt wie sonst das Denk-
vermögen des einzelnen Menschen, und jedenfalls nach Analogie
dieses Vermögens vorgestellt 1). Dieser "Geist", einfach, un-
vermischt und unveränderlich, wird mit solchen Beiwörtern be-

und Occident weit verbreiteten Erzählung. S. meinen Vortrag über
griech. Novellendichtung, Verh. d. Philologenvers. zu Rostock [1875]
p. 68 f.) -- Unter den "fragmenta moralia" des Demokrit, die mit ver-
schwindenden Ausnahmen (z. B. fr. 7; 23; 48; 49 etc.) sämmtlich ge-
fälschte Fabrikarbeiten sehr geringer Art sind, stimmt eines, fr. 119
Mull., wenigstens mit dem überein, was D. von den Höllenstrafen wohl
gemeint haben könnte (gesagt hätte er es nun wohl "mit ein wenig
anderen Worten"; vollends eine so hässliche Wucherung, wie das spät-
griechisch klingende muthoplasteontes würde ihm kaum in die Feder ge-
kommen sein). Auch im Gedanken ist nichts Demokritisches geblieben
in einem andren jener falsa, fr. moral. 1: psukhe oiketerion daimonos.
1) Demokrit, von der unorganischen Natur in seinen Betrachtungen
ausgehend, wird auf die Annahme einer mechanischen Gesetzmässigkeit,
auch in der organischen Natur, geführt. Anaxagoras fasste gleich an-
fangs die organische Natur ins Auge, und deren höchste Entwicklung,
das Menschenthum. Von dorther überträgt sich ihm der Begriff des
Zweckes, des im Bewusstsein erfassten und verfolgten Zweckes, auf die
gesammte Natur, auch die unorganische. Er giebt der überall wirksam
gedachten teleologischen Gesetzmässigkeit einen Träger in einem Nach-

gebildet und gebaut war, sind unvergänglich und neuen Bil-
dungen vorbehalten, seine Persönlichkeit aber, wie seine sicht-
bare so seine unsichtbare, seine „Seele“, hat nur ein einmaliges,
zeitlich begrenztes Dasein. Eine Fortdauer der Seele nach
dem Tode, eine Unsterblichkeit, in welchem Sinne man sie
auch verstehen mag, wird hier zum ersten Male in der Ge-
schichte des griechischen Denkens ausdrücklich geleugnet; der
Atomist zieht mit der ehrlichen Bestimmtheit, die ihn aus-
zeichnet, die Consequenzen seiner Voraussetzungen.

Anaxagoras schlägt dieser materialistischen Lehre fast
entgegengesetzte Wege ein. Als erster entschiedener und be-
wusster Dualist unter den griechischen Denkern, setzt er dem
materiellen Untergrund des Seins, der unendlichen Menge der
nach ihren Eigenschaften bestimmten und von einander ver-
schiedenen, ununterscheidbar aber durch einander gemischten
„Saamen“ der Dinge eine Kraft gegenüber, die er offenbar aus
ihnen nicht abzuleiten wusste, benannt wie sonst das Denk-
vermögen des einzelnen Menschen, und jedenfalls nach Analogie
dieses Vermögens vorgestellt 1). Dieser „Geist“, einfach, un-
vermischt und unveränderlich, wird mit solchen Beiwörtern be-

und Occident weit verbreiteten Erzählung. S. meinen Vortrag über
griech. Novellendichtung, Verh. d. Philologenvers. zu Rostock [1875]
p. 68 f.) — Unter den „fragmenta moralia“ des Demokrit, die mit ver-
schwindenden Ausnahmen (z. B. fr. 7; 23; 48; 49 etc.) sämmtlich ge-
fälschte Fabrikarbeiten sehr geringer Art sind, stimmt eines, fr. 119
Mull., wenigstens mit dem überein, was D. von den Höllenstrafen wohl
gemeint haben könnte (gesagt hätte er es nun wohl „mit ein wenig
anderen Worten“; vollends eine so hässliche Wucherung, wie das spät-
griechisch klingende μυϑοπλαστέοντες würde ihm kaum in die Feder ge-
kommen sein). Auch im Gedanken ist nichts Demokritisches geblieben
in einem andren jener falsa, fr. moral. 1: ψυχὴ οἰκητήριον δαίμονος.
1) Demokrit, von der unorganischen Natur in seinen Betrachtungen
ausgehend, wird auf die Annahme einer mechanischen Gesetzmässigkeit,
auch in der organischen Natur, geführt. Anaxagoras fasste gleich an-
fangs die organische Natur ins Auge, und deren höchste Entwicklung,
das Menschenthum. Von dorther überträgt sich ihm der Begriff des
Zweckes, des im Bewusstsein erfassten und verfolgten Zweckes, auf die
gesammte Natur, auch die unorganische. Er giebt der überall wirksam
gedachten teleologischen Gesetzmässigkeit einen Träger in einem Nach-
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[484/0500] gebildet und gebaut war, sind unvergänglich und neuen Bil- dungen vorbehalten, seine Persönlichkeit aber, wie seine sicht- bare so seine unsichtbare, seine „Seele“, hat nur ein einmaliges, zeitlich begrenztes Dasein. Eine Fortdauer der Seele nach dem Tode, eine Unsterblichkeit, in welchem Sinne man sie auch verstehen mag, wird hier zum ersten Male in der Ge- schichte des griechischen Denkens ausdrücklich geleugnet; der Atomist zieht mit der ehrlichen Bestimmtheit, die ihn aus- zeichnet, die Consequenzen seiner Voraussetzungen. Anaxagoras schlägt dieser materialistischen Lehre fast entgegengesetzte Wege ein. Als erster entschiedener und be- wusster Dualist unter den griechischen Denkern, setzt er dem materiellen Untergrund des Seins, der unendlichen Menge der nach ihren Eigenschaften bestimmten und von einander ver- schiedenen, ununterscheidbar aber durch einander gemischten „Saamen“ der Dinge eine Kraft gegenüber, die er offenbar aus ihnen nicht abzuleiten wusste, benannt wie sonst das Denk- vermögen des einzelnen Menschen, und jedenfalls nach Analogie dieses Vermögens vorgestellt 1). Dieser „Geist“, einfach, un- vermischt und unveränderlich, wird mit solchen Beiwörtern be- 2) 1) Demokrit, von der unorganischen Natur in seinen Betrachtungen ausgehend, wird auf die Annahme einer mechanischen Gesetzmässigkeit, auch in der organischen Natur, geführt. Anaxagoras fasste gleich an- fangs die organische Natur ins Auge, und deren höchste Entwicklung, das Menschenthum. Von dorther überträgt sich ihm der Begriff des Zweckes, des im Bewusstsein erfassten und verfolgten Zweckes, auf die gesammte Natur, auch die unorganische. Er giebt der überall wirksam gedachten teleologischen Gesetzmässigkeit einen Träger in einem Nach- 2) und Occident weit verbreiteten Erzählung. S. meinen Vortrag über griech. Novellendichtung, Verh. d. Philologenvers. zu Rostock [1875] p. 68 f.) — Unter den „fragmenta moralia“ des Demokrit, die mit ver- schwindenden Ausnahmen (z. B. fr. 7; 23; 48; 49 etc.) sämmtlich ge- fälschte Fabrikarbeiten sehr geringer Art sind, stimmt eines, fr. 119 Mull., wenigstens mit dem überein, was D. von den Höllenstrafen wohl gemeint haben könnte (gesagt hätte er es nun wohl „mit ein wenig anderen Worten“; vollends eine so hässliche Wucherung, wie das spät- griechisch klingende μυϑοπλαστέοντες würde ihm kaum in die Feder ge- kommen sein). Auch im Gedanken ist nichts Demokritisches geblieben in einem andren jener falsa, fr. moral. 1: ψυχὴ οἰκητήριον δαίμονος.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/500>, abgerufen am 22.11.2024.