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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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geht von den gesammten, durch den Leib gleichmässig ver-
theilten seelischen Atomen die Bewegung des Körpers aus,
zugleich aber (in einer freilich unfassbaren Weise) die ebenfalls
auf einer Bewegung beruhende Wahrnehmung und das darauf
begründete Denken eben dieses Körpers. Bei Leibesleben er-
hält sich der Bestand der Seelenatome durch die Athmung,
welche die, durch den Druck der umgebenden Atmosphäre
fortwährend aus dem Ganzen des Atomencomplexes hinausge-
pressten glatten Seelentheile ersetzt, indem sie aus der Luft,
die von schwebenden Seelenatomen erfüllt ist, immer neuen
Seelenstoff einzieht und dem Körper zuführt. Einmal aber
genügt der Athem diesem Dienste nicht mehr. Dann tritt der
Tod ein, welcher eben eine Folge der mangelnden Zuführung
der bewegenden und beseelenden Atome ist 1). Mit dem Tode
löst sich die Verbindung der Atome, deren Vereinigung diesen
einzelnen lebenden Organismus bildete. Die Seelenatome, nicht
anders als alle übrigen Atome, vergehen nicht, sie wandeln
ihre Art nicht, aber aus der lockeren Anhäufung, in der sie,
auch im lebendigen Leibe, kaum eine geschlossene, unter Einem
Gesammtnamen zusammenzufassende Einheit bildeten, lösen
sie sich nun gänzlich. Es ist, bei dieser Vorstellung von dem
Wesen des Seelischen und Lebengebenden, schwer begreiflich,
wie, als eine Resultante von lauter selbständigen Einzelwir-
kungen unverbundener Einzelkörper, die Einheit des lebendi-
gen Organismus und des seelischen Wesens entstehen könne;

1) Ueber Demokrits Seelenlehre steht alles Wesentliche bei Ari-
stoteles, de anima I 2, p. 403 b, 31--404 a, 16; 405 a, 7--13; I 3, p. 406 b,
15--22; de respir. 4, p. 471 b, 30--472 a, 17. -- Die Luft ist voll von den
Theilen, die D. nous kai psukhe nennt: de respir. 472 a, 6--8. In der Luft
schwebende Atome sind es, die als "Sonnenstäubchen" sichtbar werden,
von diesen ein Theil sind die Seelenatome (so muss man de an. 404 a,
3 ff. verstehen. Nur aus Aristoteles schöpft Jamblich. b. Stob. ecl. p. 384,
15 W.). Eine Modification der (von Aristot. ibid. 404 a, 16 ff. erwähnten)
Meinung der Pythagoreer, dass die Sonnenstäubchen "Seelen" seien
(s. oben p. 453, 5). Die Einathmung der Weltstoffe als Bedingung des Le-
bens des Individuums ist dem Heraklit (s. Sext. Emp. adv. math. 7, 129)
nachgebildet.

geht von den gesammten, durch den Leib gleichmässig ver-
theilten seelischen Atomen die Bewegung des Körpers aus,
zugleich aber (in einer freilich unfassbaren Weise) die ebenfalls
auf einer Bewegung beruhende Wahrnehmung und das darauf
begründete Denken eben dieses Körpers. Bei Leibesleben er-
hält sich der Bestand der Seelenatome durch die Athmung,
welche die, durch den Druck der umgebenden Atmosphäre
fortwährend aus dem Ganzen des Atomencomplexes hinausge-
pressten glatten Seelentheile ersetzt, indem sie aus der Luft,
die von schwebenden Seelenatomen erfüllt ist, immer neuen
Seelenstoff einzieht und dem Körper zuführt. Einmal aber
genügt der Athem diesem Dienste nicht mehr. Dann tritt der
Tod ein, welcher eben eine Folge der mangelnden Zuführung
der bewegenden und beseelenden Atome ist 1). Mit dem Tode
löst sich die Verbindung der Atome, deren Vereinigung diesen
einzelnen lebenden Organismus bildete. Die Seelenatome, nicht
anders als alle übrigen Atome, vergehen nicht, sie wandeln
ihre Art nicht, aber aus der lockeren Anhäufung, in der sie,
auch im lebendigen Leibe, kaum eine geschlossene, unter Einem
Gesammtnamen zusammenzufassende Einheit bildeten, lösen
sie sich nun gänzlich. Es ist, bei dieser Vorstellung von dem
Wesen des Seelischen und Lebengebenden, schwer begreiflich,
wie, als eine Resultante von lauter selbständigen Einzelwir-
kungen unverbundener Einzelkörper, die Einheit des lebendi-
gen Organismus und des seelischen Wesens entstehen könne;

1) Ueber Demokrits Seelenlehre steht alles Wesentliche bei Ari-
stoteles, de anima I 2, p. 403 b, 31—404 a, 16; 405 a, 7—13; I 3, p. 406 b,
15—22; de respir. 4, p. 471 b, 30—472 a, 17. — Die Luft ist voll von den
Theilen, die D. νοῦς καὶ ψυχή nennt: de respir. 472 a, 6—8. In der Luft
schwebende Atome sind es, die als „Sonnenstäubchen“ sichtbar werden,
von diesen ein Theil sind die Seelenatome (so muss man de an. 404 a,
3 ff. verstehen. Nur aus Aristoteles schöpft Jamblich. b. Stob. ecl. p. 384,
15 W.). Eine Modification der (von Aristot. ibid. 404 a, 16 ff. erwähnten)
Meinung der Pythagoreer, dass die Sonnenstäubchen „Seelen“ seien
(s. oben p. 453, 5). Die Einathmung der Weltstoffe als Bedingung des Le-
bens des Individuums ist dem Heraklit (s. Sext. Emp. adv. math. 7, 129)
nachgebildet.
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[482/0498] geht von den gesammten, durch den Leib gleichmässig ver- theilten seelischen Atomen die Bewegung des Körpers aus, zugleich aber (in einer freilich unfassbaren Weise) die ebenfalls auf einer Bewegung beruhende Wahrnehmung und das darauf begründete Denken eben dieses Körpers. Bei Leibesleben er- hält sich der Bestand der Seelenatome durch die Athmung, welche die, durch den Druck der umgebenden Atmosphäre fortwährend aus dem Ganzen des Atomencomplexes hinausge- pressten glatten Seelentheile ersetzt, indem sie aus der Luft, die von schwebenden Seelenatomen erfüllt ist, immer neuen Seelenstoff einzieht und dem Körper zuführt. Einmal aber genügt der Athem diesem Dienste nicht mehr. Dann tritt der Tod ein, welcher eben eine Folge der mangelnden Zuführung der bewegenden und beseelenden Atome ist 1). Mit dem Tode löst sich die Verbindung der Atome, deren Vereinigung diesen einzelnen lebenden Organismus bildete. Die Seelenatome, nicht anders als alle übrigen Atome, vergehen nicht, sie wandeln ihre Art nicht, aber aus der lockeren Anhäufung, in der sie, auch im lebendigen Leibe, kaum eine geschlossene, unter Einem Gesammtnamen zusammenzufassende Einheit bildeten, lösen sie sich nun gänzlich. Es ist, bei dieser Vorstellung von dem Wesen des Seelischen und Lebengebenden, schwer begreiflich, wie, als eine Resultante von lauter selbständigen Einzelwir- kungen unverbundener Einzelkörper, die Einheit des lebendi- gen Organismus und des seelischen Wesens entstehen könne; 1) Ueber Demokrits Seelenlehre steht alles Wesentliche bei Ari- stoteles, de anima I 2, p. 403 b, 31—404 a, 16; 405 a, 7—13; I 3, p. 406 b, 15—22; de respir. 4, p. 471 b, 30—472 a, 17. — Die Luft ist voll von den Theilen, die D. νοῦς καὶ ψυχή nennt: de respir. 472 a, 6—8. In der Luft schwebende Atome sind es, die als „Sonnenstäubchen“ sichtbar werden, von diesen ein Theil sind die Seelenatome (so muss man de an. 404 a, 3 ff. verstehen. Nur aus Aristoteles schöpft Jamblich. b. Stob. ecl. p. 384, 15 W.). Eine Modification der (von Aristot. ibid. 404 a, 16 ff. erwähnten) Meinung der Pythagoreer, dass die Sonnenstäubchen „Seelen“ seien (s. oben p. 453, 5). Die Einathmung der Weltstoffe als Bedingung des Le- bens des Individuums ist dem Heraklit (s. Sext. Emp. adv. math. 7, 129) nachgebildet.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/498>, abgerufen am 22.11.2024.