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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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den anderen Unsterblichen, selbst Götter, von menschlichen
Leiden entbunden, vom Tode frei und unvergänglich 1). Sich
selbst sieht Empedokles auf der letzten Stufe schon angekom-
men; anderen weist er den Weg da hinauf.

Zwischen dem, was hier der Mystiker von den schon vor-
her in göttlichem Dasein lebendigen, in die Welt der Elemente
hineingeworfenen, aber an sie nicht für immer gebundenen
Seelen sagt, und dem was der Physiolog von den, den Ele-
menten innewohnenden, an den, aus Elementen aufgebauten
Körper gebundenen und mit dessen Auflösung vergehenden
Seelenkräften lehrte, scheint ein unlöslicher Widerspruch zu
zu bestehen. Man darf auch, um die ganze und wahre Mei-
nung des Empedokles zu fassen, weder einen Theil seiner Aus-
sagen bei Seite setzen 2), noch durch begütigende Auslegung
eine Einstimmigkeit des Philosophen mit sich selbst herstellen
wollen 3), wo doch deutlich zwei Stimmen laut werden. Die
zwei Stimmen sagen nicht dasselbe; dennoch besteht, im Sinne
des Empedokles, kein Widerspruch zwischen ihren Aussagen:
denn diese beziehen sich auf ganz verschiedene Gegenstände.
Die seelischen Kräfte und Vermögen des Empfindens und
Wahrnehmens, welche Functionen des Stoffes sind, in diesem
erzeugt und nach ihm bestimmt, das Denken, welches nichts
anderes ist als das Herzblut des Menschen, weder bilden sie
zusammen das Wesen und den Inhalt jenes Seelengeistes, der
in Mensch, Thier und Pflanze wohnt, noch sind sie dessen
Thätigkeitsäusserungen. Sie sind ganz an die Elemente und
deren Mischung, im Menschen an den Leib und seine Organe
gebunden, Kräfte und Vermögen dieses Leibes, nicht eines
eigenen unsichtbaren Seelenwesens. Der Seelendämon ist nicht
aus den Elementen erzeugt, nicht ewig an sie gefesselt. Er

1) 459 ff. enthen anablastousi theoi timesi pheristoi, athanatois alloisin
omestioi, en te trapezais (schr. en te trapezoi. Tmesis; = entrapezoi te) ;
eunies andreion akheon, apokeroi, ateireis.
2) Wie Plutarch de exil. 17 p 607 D zu thun geneigt ist.
3) Wie Neuere mehrfach zu thun versucht haben.

den anderen Unsterblichen, selbst Götter, von menschlichen
Leiden entbunden, vom Tode frei und unvergänglich 1). Sich
selbst sieht Empedokles auf der letzten Stufe schon angekom-
men; anderen weist er den Weg da hinauf.

Zwischen dem, was hier der Mystiker von den schon vor-
her in göttlichem Dasein lebendigen, in die Welt der Elemente
hineingeworfenen, aber an sie nicht für immer gebundenen
Seelen sagt, und dem was der Physiolog von den, den Ele-
menten innewohnenden, an den, aus Elementen aufgebauten
Körper gebundenen und mit dessen Auflösung vergehenden
Seelenkräften lehrte, scheint ein unlöslicher Widerspruch zu
zu bestehen. Man darf auch, um die ganze und wahre Mei-
nung des Empedokles zu fassen, weder einen Theil seiner Aus-
sagen bei Seite setzen 2), noch durch begütigende Auslegung
eine Einstimmigkeit des Philosophen mit sich selbst herstellen
wollen 3), wo doch deutlich zwei Stimmen laut werden. Die
zwei Stimmen sagen nicht dasselbe; dennoch besteht, im Sinne
des Empedokles, kein Widerspruch zwischen ihren Aussagen:
denn diese beziehen sich auf ganz verschiedene Gegenstände.
Die seelischen Kräfte und Vermögen des Empfindens und
Wahrnehmens, welche Functionen des Stoffes sind, in diesem
erzeugt und nach ihm bestimmt, das Denken, welches nichts
anderes ist als das Herzblut des Menschen, weder bilden sie
zusammen das Wesen und den Inhalt jenes Seelengeistes, der
in Mensch, Thier und Pflanze wohnt, noch sind sie dessen
Thätigkeitsäusserungen. Sie sind ganz an die Elemente und
deren Mischung, im Menschen an den Leib und seine Organe
gebunden, Kräfte und Vermögen dieses Leibes, nicht eines
eigenen unsichtbaren Seelenwesens. Der Seelendämon ist nicht
aus den Elementen erzeugt, nicht ewig an sie gefesselt. Er

1) 459 ff. ἔνϑεν ἀναβλαστοῦσι ϑεοὶ τιμῇσι φέριστοι, ἀϑανάτοις ἄλλοισιν
ὁμέστιοι, ἔν τε τραπέζαις (schr. ἔν τε τράπεζοι. Tmesis; = ἐντράπεζοί τε) ·
εὔνιες ἀνδρείων ἀχέων, ἀπόκηροι, ἀτειρεῖς.
2) Wie Plutarch de exil. 17 p 607 D zu thun geneigt ist.
3) Wie Neuere mehrfach zu thun versucht haben.
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[475/0491] den anderen Unsterblichen, selbst Götter, von menschlichen Leiden entbunden, vom Tode frei und unvergänglich 1). Sich selbst sieht Empedokles auf der letzten Stufe schon angekom- men; anderen weist er den Weg da hinauf. Zwischen dem, was hier der Mystiker von den schon vor- her in göttlichem Dasein lebendigen, in die Welt der Elemente hineingeworfenen, aber an sie nicht für immer gebundenen Seelen sagt, und dem was der Physiolog von den, den Ele- menten innewohnenden, an den, aus Elementen aufgebauten Körper gebundenen und mit dessen Auflösung vergehenden Seelenkräften lehrte, scheint ein unlöslicher Widerspruch zu zu bestehen. Man darf auch, um die ganze und wahre Mei- nung des Empedokles zu fassen, weder einen Theil seiner Aus- sagen bei Seite setzen 2), noch durch begütigende Auslegung eine Einstimmigkeit des Philosophen mit sich selbst herstellen wollen 3), wo doch deutlich zwei Stimmen laut werden. Die zwei Stimmen sagen nicht dasselbe; dennoch besteht, im Sinne des Empedokles, kein Widerspruch zwischen ihren Aussagen: denn diese beziehen sich auf ganz verschiedene Gegenstände. Die seelischen Kräfte und Vermögen des Empfindens und Wahrnehmens, welche Functionen des Stoffes sind, in diesem erzeugt und nach ihm bestimmt, das Denken, welches nichts anderes ist als das Herzblut des Menschen, weder bilden sie zusammen das Wesen und den Inhalt jenes Seelengeistes, der in Mensch, Thier und Pflanze wohnt, noch sind sie dessen Thätigkeitsäusserungen. Sie sind ganz an die Elemente und deren Mischung, im Menschen an den Leib und seine Organe gebunden, Kräfte und Vermögen dieses Leibes, nicht eines eigenen unsichtbaren Seelenwesens. Der Seelendämon ist nicht aus den Elementen erzeugt, nicht ewig an sie gefesselt. Er 1) 459 ff. ἔνϑεν ἀναβλαστοῦσι ϑεοὶ τιμῇσι φέριστοι, ἀϑανάτοις ἄλλοισιν ὁμέστιοι, ἔν τε τραπέζαις (schr. ἔν τε τράπεζοι. Tmesis; = ἐντράπεζοί τε) · εὔνιες ἀνδρείων ἀχέων, ἀπόκηροι, ἀτειρεῖς. 2) Wie Plutarch de exil. 17 p 607 D zu thun geneigt ist. 3) Wie Neuere mehrfach zu thun versucht haben.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/491>, abgerufen am 25.11.2024.