Wissenschaft bereits enthielt, sich in seinen eigenen Händen systematisch entfaltet haben mag, ist unbestimmbar. Fest steht, dass er in Kroton einen Bund stiftete, der in der Folge sich und die strengen Formen, nach denen er die Lebensweise seiner Mitglieder bestimmte, weit über die achäischen und dori- schen Städte des italischen "Grossgriechenlandes" ausbreitete. In diesem Bunde gewann eine tiefbedachte Auffassung des Menschenlebens und seiner Aufgaben eine sichtbare Bethäti- gung ihrer Grundsätze; und dies ausgerichtet zu haben muss als die That und das eigenthümliche Verdienst des Pythagoras gelten. Die Grundlagen dieser Lebensauffassung, soweit sie nicht etwa von Anfang an in mystischer Zahlenweisheit wurzelte, waren keineswegs von Pythagoras zum ersten Mal gelegt; neu und wirksam war die Macht der Persönlichkeit, die dem Ideal Leben und Körper zu geben vermochte. Was verwandten Bestrebungen im alten Griechenlande gefehlt haben muss, hier fand es sich in einem hohen Menschen, der den Seinen Vor- bild, Beispiel, zum Anschluss und zur Nacheiferung zwingen- der Führer wurde. Eine centrale Persönlichkeit, um die sich der Kreis einer Gemeinde wie durch innere Nöthigung zog. Frühzeitig erschien dieser Gemeindestifter der Verehrung wie ein Uebermensch, einzig und Niemanden vergleichbar. Verse des Empedokles 1), der doch selbst zur pythagoreischen Ge- meinde nicht gehörte, geben davon Kunde. Und den Anhängern gar wurde Pythagoras in der Erinnerung zum Heiligen, ja zum Gott in Menschengestalt, von dessen Wunderthaten die Legende erzählte. Uns ist es schwer gemacht, unter dem Flimmer des
mag dahingestellt bleiben). Phantastische Zahlenspeculation wird schon dem Pythagoras selbst zugeschrieben in den Aristot. Magna Moralia 1182 a, 11 ff.
1) Emp. 427 ff. Mull. -- Dass dieses praeconium sich in der That auf Pythagoras (wie Timaeus u. A. annahmen) bezieht und nicht auf Parmenides (wie unbestimmte oi de bei Laert. 8, 54 meinen) scheinen doch v. 430--432 zu beweisen, die auf eine wunderbare Kraft der anamnesis hindeuten, die wohl dem Pyth., aber niemals dem Parm. von der Sage zugeschrieben wurde.
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Wissenschaft bereits enthielt, sich in seinen eigenen Händen systematisch entfaltet haben mag, ist unbestimmbar. Fest steht, dass er in Kroton einen Bund stiftete, der in der Folge sich und die strengen Formen, nach denen er die Lebensweise seiner Mitglieder bestimmte, weit über die achäischen und dori- schen Städte des italischen „Grossgriechenlandes“ ausbreitete. In diesem Bunde gewann eine tiefbedachte Auffassung des Menschenlebens und seiner Aufgaben eine sichtbare Bethäti- gung ihrer Grundsätze; und dies ausgerichtet zu haben muss als die That und das eigenthümliche Verdienst des Pythagoras gelten. Die Grundlagen dieser Lebensauffassung, soweit sie nicht etwa von Anfang an in mystischer Zahlenweisheit wurzelte, waren keineswegs von Pythagoras zum ersten Mal gelegt; neu und wirksam war die Macht der Persönlichkeit, die dem Ideal Leben und Körper zu geben vermochte. Was verwandten Bestrebungen im alten Griechenlande gefehlt haben muss, hier fand es sich in einem hohen Menschen, der den Seinen Vor- bild, Beispiel, zum Anschluss und zur Nacheiferung zwingen- der Führer wurde. Eine centrale Persönlichkeit, um die sich der Kreis einer Gemeinde wie durch innere Nöthigung zog. Frühzeitig erschien dieser Gemeindestifter der Verehrung wie ein Uebermensch, einzig und Niemanden vergleichbar. Verse des Empedokles 1), der doch selbst zur pythagoreischen Ge- meinde nicht gehörte, geben davon Kunde. Und den Anhängern gar wurde Pythagoras in der Erinnerung zum Heiligen, ja zum Gott in Menschengestalt, von dessen Wunderthaten die Legende erzählte. Uns ist es schwer gemacht, unter dem Flimmer des
mag dahingestellt bleiben). Phantastische Zahlenspeculation wird schon dem Pythagoras selbst zugeschrieben in den Aristot. Magna Moralia 1182 a, 11 ff.
1) Emp. 427 ff. Mull. — Dass dieses praeconium sich in der That auf Pythagoras (wie Timaeus u. A. annahmen) bezieht und nicht auf Parmenides (wie unbestimmte οἳ δέ bei Laert. 8, 54 meinen) scheinen doch v. 430—432 zu beweisen, die auf eine wunderbare Kraft der ἀνάμνησις hindeuten, die wohl dem Pyth., aber niemals dem Parm. von der Sage zugeschrieben wurde.
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Wissenschaft bereits enthielt, sich in seinen eigenen Händen
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steht, dass er in Kroton einen Bund stiftete, der in der Folge
sich und die strengen Formen, nach denen er die Lebensweise
seiner Mitglieder bestimmte, weit über die achäischen und dori-
schen Städte des italischen „Grossgriechenlandes“ ausbreitete.
In diesem Bunde gewann eine tiefbedachte Auffassung des
Menschenlebens und seiner Aufgaben eine sichtbare Bethäti-
gung ihrer Grundsätze; und dies ausgerichtet zu haben muss
als die That und das eigenthümliche Verdienst des Pythagoras
gelten. Die Grundlagen dieser Lebensauffassung, soweit sie
nicht etwa von Anfang an in mystischer Zahlenweisheit wurzelte,
waren keineswegs von Pythagoras zum ersten Mal gelegt; neu
und wirksam war die Macht der Persönlichkeit, die dem Ideal
Leben und Körper zu geben vermochte. Was verwandten
Bestrebungen im alten Griechenlande gefehlt haben muss, hier
fand es sich in einem hohen Menschen, der den Seinen Vor-
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der Führer wurde. Eine centrale Persönlichkeit, um die sich
der Kreis einer Gemeinde wie durch innere Nöthigung zog.
Frühzeitig erschien dieser Gemeindestifter der Verehrung wie
ein Uebermensch, einzig und Niemanden vergleichbar. Verse
des Empedokles 1), der doch selbst zur pythagoreischen Ge-
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gar wurde Pythagoras in der Erinnerung zum Heiligen, ja zum
Gott in Menschengestalt, von dessen Wunderthaten die Legende
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1) Emp. 427 ff. Mull. — Dass dieses praeconium sich in der That
auf Pythagoras (wie Timaeus u. A. annahmen) bezieht und nicht auf
Parmenides (wie unbestimmte οἳ δέ bei Laert. 8, 54 meinen) scheinen doch
v. 430—432 zu beweisen, die auf eine wunderbare Kraft der ἀνάμνησις
hindeuten, die wohl dem Pyth., aber niemals dem Parm. von der Sage
zugeschrieben wurde.
3) mag dahingestellt bleiben). Phantastische Zahlenspeculation wird schon
dem Pythagoras selbst zugeschrieben in den Aristot. Magna Moralia
1182 a, 11 ff.
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/467>, abgerufen am 22.11.2024.
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