So werden Mond und Sterne sichtbar, wenn das hellere Licht der Sonne sie nicht mehr verdunkelt. Dass dieser Doppel- gänger des Menschen, von diesem zeitweilig getrennt, ein Son- derdasein haben könne, war mit seinem Begriff schon gegeben; dass er im Tode, welcher eben die dauernde Trennung des sichtbaren Menschen vom unsichtbaren ist, nicht untergehe, sondern nur frei werde, um allein für sich weiterzuleben, war naheliegender Glaube.
Auf dieses Geisterwesen und die dunklen Kundgebungen seiner Anwesenheit im lebendigen Menschen richtete die Philo- sophie der Ionier ihre Aufmerksamkeit nicht. Sie lebt mit ihren Gedanken im All der Welt; sie sucht nach den "Ur- sprüngen" (arkhai) alles Gewordenen und Werdenden, nach den einfachen Urbestandtheilen der vielgestaltigen Erscheinung, und nach der Kraft, die aus dem Einfachen das Mannigfaltige bil- det, indem sie die Urstoffe durchwaltet, bewegt und belebt. Die Lebenskraft, die Kraft, sich selbst und anderes, das für sich allein starr und regungslos wäre, zu bewegen, ist allem Dasein verschmolzen; wo sie, im geschlossenen Einzelwesen, sich am kenntlichsten darstellt, ist sie es, was diese Philosophen "Psyche" nennen.
So aufgefasst ist die Psyche etwas ganz anderes als jene Psyche des Volksglaubens, die den Lebensäusserungen ihres Leibes wie ein Fremdes müssig zusieht, und auf sich selbst concentrirt ihr verborgenes Einzelleben führt. Der Name dieser sehr verschiedenen Begriffe bleibt gleichwohl derselbe. Die Kraft, die den sichtbaren Leib bewegt und belebt, die Lebens- kraft des Menschen, seine "Psyche" zu nennen, konnte die Philosophen ein Sprachgebrauch veranlassen, der, wiewohl homerischen Vorstellungen, genau genommen, widersprechend, schon in den homerischen Gedichten bisweilen bemerklich ist und später immer geläufiger geworden zu sein scheint 1). Ge-
1) psukhe = Leben, Lebensbegriff (freilich nie als Bezeichnung seeli- scher Kraft während des Lebens) bei Homer (oben p. 43 f.). So auch bis- weilen in den Resten der iambischen und elegischen Dichtung ältester Zeit:
So werden Mond und Sterne sichtbar, wenn das hellere Licht der Sonne sie nicht mehr verdunkelt. Dass dieser Doppel- gänger des Menschen, von diesem zeitweilig getrennt, ein Son- derdasein haben könne, war mit seinem Begriff schon gegeben; dass er im Tode, welcher eben die dauernde Trennung des sichtbaren Menschen vom unsichtbaren ist, nicht untergehe, sondern nur frei werde, um allein für sich weiterzuleben, war naheliegender Glaube.
Auf dieses Geisterwesen und die dunklen Kundgebungen seiner Anwesenheit im lebendigen Menschen richtete die Philo- sophie der Ionier ihre Aufmerksamkeit nicht. Sie lebt mit ihren Gedanken im All der Welt; sie sucht nach den „Ur- sprüngen“ (ἀρχαί) alles Gewordenen und Werdenden, nach den einfachen Urbestandtheilen der vielgestaltigen Erscheinung, und nach der Kraft, die aus dem Einfachen das Mannigfaltige bil- det, indem sie die Urstoffe durchwaltet, bewegt und belebt. Die Lebenskraft, die Kraft, sich selbst und anderes, das für sich allein starr und regungslos wäre, zu bewegen, ist allem Dasein verschmolzen; wo sie, im geschlossenen Einzelwesen, sich am kenntlichsten darstellt, ist sie es, was diese Philosophen „Psyche“ nennen.
So aufgefasst ist die Psyche etwas ganz anderes als jene Psyche des Volksglaubens, die den Lebensäusserungen ihres Leibes wie ein Fremdes müssig zusieht, und auf sich selbst concentrirt ihr verborgenes Einzelleben führt. Der Name dieser sehr verschiedenen Begriffe bleibt gleichwohl derselbe. Die Kraft, die den sichtbaren Leib bewegt und belebt, die Lebens- kraft des Menschen, seine „Psyche“ zu nennen, konnte die Philosophen ein Sprachgebrauch veranlassen, der, wiewohl homerischen Vorstellungen, genau genommen, widersprechend, schon in den homerischen Gedichten bisweilen bemerklich ist und später immer geläufiger geworden zu sein scheint 1). Ge-
1) ψυχή = Leben, Lebensbegriff (freilich nie als Bezeichnung seeli- scher Kraft während des Lebens) bei Homer (oben p. 43 f.). So auch bis- weilen in den Resten der iambischen und elegischen Dichtung ältester Zeit:
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So werden Mond und Sterne sichtbar, wenn das hellere Licht
der Sonne sie nicht mehr verdunkelt. Dass dieser Doppel-
gänger des Menschen, von diesem zeitweilig getrennt, ein Son-
derdasein haben könne, war mit seinem Begriff schon gegeben;
dass er im Tode, welcher eben die dauernde Trennung des
sichtbaren Menschen vom unsichtbaren ist, nicht untergehe,
sondern nur frei werde, um allein für sich weiterzuleben, war
naheliegender Glaube.
Auf dieses Geisterwesen und die dunklen Kundgebungen
seiner Anwesenheit im lebendigen Menschen richtete die Philo-
sophie der Ionier ihre Aufmerksamkeit nicht. Sie lebt mit
ihren Gedanken im All der Welt; sie sucht nach den „Ur-
sprüngen“ (ἀρχαί) alles Gewordenen und Werdenden, nach den
einfachen Urbestandtheilen der vielgestaltigen Erscheinung, und
nach der Kraft, die aus dem Einfachen das Mannigfaltige bil-
det, indem sie die Urstoffe durchwaltet, bewegt und belebt.
Die Lebenskraft, die Kraft, sich selbst und anderes, das für
sich allein starr und regungslos wäre, zu bewegen, ist allem
Dasein verschmolzen; wo sie, im geschlossenen Einzelwesen,
sich am kenntlichsten darstellt, ist sie es, was diese Philosophen
„Psyche“ nennen.
So aufgefasst ist die Psyche etwas ganz anderes als jene
Psyche des Volksglaubens, die den Lebensäusserungen ihres
Leibes wie ein Fremdes müssig zusieht, und auf sich selbst
concentrirt ihr verborgenes Einzelleben führt. Der Name dieser
sehr verschiedenen Begriffe bleibt gleichwohl derselbe. Die
Kraft, die den sichtbaren Leib bewegt und belebt, die Lebens-
kraft des Menschen, seine „Psyche“ zu nennen, konnte die
Philosophen ein Sprachgebrauch veranlassen, der, wiewohl
homerischen Vorstellungen, genau genommen, widersprechend,
schon in den homerischen Gedichten bisweilen bemerklich ist
und später immer geläufiger geworden zu sein scheint 1). Ge-
1) ψυχή = Leben, Lebensbegriff (freilich nie als Bezeichnung seeli-
scher Kraft während des Lebens) bei Homer (oben p. 43 f.). So auch bis-
weilen in den Resten der iambischen und elegischen Dichtung ältester Zeit:
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/448>, abgerufen am 22.11.2024.
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