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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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hellenischen Gedankenkreisen; und in dieser Verbindung erst
ist sie orphisch. Die schlimmen Titanen gehören ächt griechi-
scher Mythologie an 1). Hier zu Mördern des Gottes geworden,
stellen sie die Urkraft des Bösen vor 2). Sie zerreissen den
Einen in viele Theile: durch Frevel verliert sich das Eine
Gotteswesen in die Vielheit der Gestalten dieser Welt 3). Es
ersteht als Einheit wieder in dem neu aus Zeus entsprossenen
Dionysos. Die Titanen aber -- so lautete die Sage weiter, --
welche die Glieder des Gottes verschlungen hatten, zerschmet-
tert Zeus durch seinen Blitzstrahl; aus ihrer Asche entsteht
das Geschlecht der Menschen, in denen nun, ihrem Ursprung

in den bakchischen Orgien zerrissene Stier den Gott selbst vorstellte
(und dies nicht allein im orphischen, sondern von jeher im thrakischen
Dienst), war den Alten vollkommen gegenwärtig; es wird mehrfach aus-
gesprochen (z. B. bei Firmic. Mat. error. prof. rel. 6, 5), ganz besonders
deutlich aber in dem orphischen ieros logos ausgedrückt.
1) Die Einführung der aus hellenischer Mythologie herübergenommenen
Titanen in den thrakischen Mythus bezeichnet als das Werk des Onoma-
kritos ganz bestimmt Pausanias 8, 37, 5.
2) Titenes kakometai, uperbion etor ekhontes fr. 102. ameilikhon etor
ekhontes kai phusin eknomien fr. 97. Schon bei Hesiod sind die Titanen dem
Vater verhasst als deinotatoi paidon (Theog. 155) Titanike phusis die
schlimme, aller Eidtreue abgeneigte: Plato, Leg. 3, 701 C (Cic. de leg.
3 § 5). Impios Titanas Horat. c. 3, 4, 42.
3) Neoplatonisch subtilisirt wird diese Deutung des diamelismos des
Zagreus bei den Benutzern der orphischen Rhapsodien oft vorgetragen:
s. Lobeck 710 ff. Aber ähnlich auch schon bei Plutarch (EI ap. D. 9),
und es ist nicht zu verkennen, dass diese Deutung (von ihrer platoni-
sirenden Einhüllung befreit) wirklich den Sinn ausspricht, dem die Sage
nach der Absicht ihrer Erfinder dienen sollte. Dass eine Vorstellung,
nach welcher das Sonderdasein der Dinge durch einen Frevel in die
Welt gekommen ist, Theologen des 6. Jahrhunderts keineswegs fremd
sein musste, wird man zugeben, wenn man sich der Lehre des Anaxi-
mander erinnert, nach welcher die aus dem Einen apeiron hervor-
gegangenen Vielheiten der Dinge eben hiermit eine adikia begangen
haben, für die sie "Busse und Strafe" zahlen müssen (fr. 2 Mull.).
Solche, die Naturvorgänge ethisirenden und damit personificirenden Vor-
stellungen werden dem Philosophen, zugleich mit dem quietistischen
Hange, in dem sie wurzeln, eher aus den Phantasmen mystischer Halb-
philosophen zugekommen sein als umgekehrt den Mystikern von dem
Philosophen.

hellenischen Gedankenkreisen; und in dieser Verbindung erst
ist sie orphisch. Die schlimmen Titanen gehören ächt griechi-
scher Mythologie an 1). Hier zu Mördern des Gottes geworden,
stellen sie die Urkraft des Bösen vor 2). Sie zerreissen den
Einen in viele Theile: durch Frevel verliert sich das Eine
Gotteswesen in die Vielheit der Gestalten dieser Welt 3). Es
ersteht als Einheit wieder in dem neu aus Zeus entsprossenen
Dionysos. Die Titanen aber — so lautete die Sage weiter, —
welche die Glieder des Gottes verschlungen hatten, zerschmet-
tert Zeus durch seinen Blitzstrahl; aus ihrer Asche entsteht
das Geschlecht der Menschen, in denen nun, ihrem Ursprung

in den bakchischen Orgien zerrissene Stier den Gott selbst vorstellte
(und dies nicht allein im orphischen, sondern von jeher im thrakischen
Dienst), war den Alten vollkommen gegenwärtig; es wird mehrfach aus-
gesprochen (z. B. bei Firmic. Mat. error. prof. rel. 6, 5), ganz besonders
deutlich aber in dem orphischen ἱερὸς λόγος ausgedrückt.
1) Die Einführung der aus hellenischer Mythologie herübergenommenen
Titanen in den thrakischen Mythus bezeichnet als das Werk des Onoma-
kritos ganz bestimmt Pausanias 8, 37, 5.
2) Τιτῆνες κακομῆται, ὑπέρβιον ἦτορ ἔχοντες fr. 102. ἀμείλιχον ἦτορ
ἔχοντες καὶ φύσιν ἐκνομίην fr. 97. Schon bei Hesiod sind die Titanen dem
Vater verhasst als δεινότατοι παίδων (Theog. 155) Τιτανικὴ φύσις die
schlimme, aller Eidtreue abgeneigte: Plato, Leg. 3, 701 C (Cic. de leg.
3 § 5). Impios Titanas Horat. c. 3, 4, 42.
3) Neoplatonisch subtilisirt wird diese Deutung des διαμελισμός des
Zagreus bei den Benutzern der orphischen Rhapsodien oft vorgetragen:
s. Lobeck 710 ff. Aber ähnlich auch schon bei Plutarch (EI ap. D. 9),
und es ist nicht zu verkennen, dass diese Deutung (von ihrer platoni-
sirenden Einhüllung befreit) wirklich den Sinn ausspricht, dem die Sage
nach der Absicht ihrer Erfinder dienen sollte. Dass eine Vorstellung,
nach welcher das Sonderdasein der Dinge durch einen Frevel in die
Welt gekommen ist, Theologen des 6. Jahrhunderts keineswegs fremd
sein musste, wird man zugeben, wenn man sich der Lehre des Anaxi-
mander erinnert, nach welcher die aus dem Einen ἄπειρον hervor-
gegangenen Vielheiten der Dinge eben hiermit eine ἀδικία begangen
haben, für die sie „Busse und Strafe“ zahlen müssen (fr. 2 Mull.).
Solche, die Naturvorgänge ethisirenden und damit personificirenden Vor-
stellungen werden dem Philosophen, zugleich mit dem quietistischen
Hange, in dem sie wurzeln, eher aus den Phantasmen mystischer Halb-
philosophen zugekommen sein als umgekehrt den Mystikern von dem
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[412/0428] hellenischen Gedankenkreisen; und in dieser Verbindung erst ist sie orphisch. Die schlimmen Titanen gehören ächt griechi- scher Mythologie an 1). Hier zu Mördern des Gottes geworden, stellen sie die Urkraft des Bösen vor 2). Sie zerreissen den Einen in viele Theile: durch Frevel verliert sich das Eine Gotteswesen in die Vielheit der Gestalten dieser Welt 3). Es ersteht als Einheit wieder in dem neu aus Zeus entsprossenen Dionysos. Die Titanen aber — so lautete die Sage weiter, — welche die Glieder des Gottes verschlungen hatten, zerschmet- tert Zeus durch seinen Blitzstrahl; aus ihrer Asche entsteht das Geschlecht der Menschen, in denen nun, ihrem Ursprung 5) 1) Die Einführung der aus hellenischer Mythologie herübergenommenen Titanen in den thrakischen Mythus bezeichnet als das Werk des Onoma- kritos ganz bestimmt Pausanias 8, 37, 5. 2) Τιτῆνες κακομῆται, ὑπέρβιον ἦτορ ἔχοντες fr. 102. ἀμείλιχον ἦτορ ἔχοντες καὶ φύσιν ἐκνομίην fr. 97. Schon bei Hesiod sind die Titanen dem Vater verhasst als δεινότατοι παίδων (Theog. 155) Τιτανικὴ φύσις die schlimme, aller Eidtreue abgeneigte: Plato, Leg. 3, 701 C (Cic. de leg. 3 § 5). Impios Titanas Horat. c. 3, 4, 42. 3) Neoplatonisch subtilisirt wird diese Deutung des διαμελισμός des Zagreus bei den Benutzern der orphischen Rhapsodien oft vorgetragen: s. Lobeck 710 ff. Aber ähnlich auch schon bei Plutarch (EI ap. D. 9), und es ist nicht zu verkennen, dass diese Deutung (von ihrer platoni- sirenden Einhüllung befreit) wirklich den Sinn ausspricht, dem die Sage nach der Absicht ihrer Erfinder dienen sollte. Dass eine Vorstellung, nach welcher das Sonderdasein der Dinge durch einen Frevel in die Welt gekommen ist, Theologen des 6. Jahrhunderts keineswegs fremd sein musste, wird man zugeben, wenn man sich der Lehre des Anaxi- mander erinnert, nach welcher die aus dem Einen ἄπειρον hervor- gegangenen Vielheiten der Dinge eben hiermit eine ἀδικία begangen haben, für die sie „Busse und Strafe“ zahlen müssen (fr. 2 Mull.). Solche, die Naturvorgänge ethisirenden und damit personificirenden Vor- stellungen werden dem Philosophen, zugleich mit dem quietistischen Hange, in dem sie wurzeln, eher aus den Phantasmen mystischer Halb- philosophen zugekommen sein als umgekehrt den Mystikern von dem Philosophen. 5) in den bakchischen Orgien zerrissene Stier den Gott selbst vorstellte (und dies nicht allein im orphischen, sondern von jeher im thrakischen Dienst), war den Alten vollkommen gegenwärtig; es wird mehrfach aus- gesprochen (z. B. bei Firmic. Mat. error. prof. rel. 6, 5), ganz besonders deutlich aber in dem orphischen ἱερὸς λόγος ausgedrückt.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/428>, abgerufen am 22.11.2024.