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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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von der Onomakritos gedichtet haben soll, sehr wohl einen
Mittelpunkt gebildet haben 1).

Glaube und religiöser Gebrauch der Secte war auf den
Ausführungen sehr zahlreicher Schriften ritualen und theolo-
gischen Inhalts begründet, die, auf das Ansehen göttlicher
Offenbarungen Anspruch machend 2), sämmtlich als Werke des
Sängers thrakischer Vorzeit, des Orpheus selbst gelten wollten.
Die Hülle, welche die wahren Verfasser jener Dichtungen ver-
barg, muss nicht sehr dicht gewesen sein: noch gegen Ende
des vierten Jahrhunderts meinte man mit Bestimmtheit die
Urheber der einzelnen Gedichte nennen zu können. Eigent-
lich kanonisches Ansehen, vor dem jede abweichende Anschau-
ung und Darstellung zum Schweigen gekommen wäre, scheint
keine dieser Schriften genossen zu haben; insbesondere der
theogonischen Dichtungen, in denen sich die Grundvorstel-
lungen orphischer religiöser Speculation zu gestalten versuchten,
gab es manche 3), die bei aller Uebereinstimmung in der Haupt-

1) Onom. einai tous Titanas to Dionuso ton pathematon epoiesen
autourgous. Paus. 8, 37, 5. An die "Theogonie" denkt hierbei Lobeck,
Agl. 335: aber Niemand giebt irgend eine der mehreren orphischen Theo-
gonien dem Onomakritos als deren wahrem Verfasser. Man wird eher
an die teletai denken dürfen, die dem On. ausdrücklich zugeschrieben
werden, jedenfalls ja auf den praktischen Gottesdienst (die luseis, kathar-
moi adikematon ktl. as de teletas kalousin [nicht: die mystischen bibloi
nennen sie teletas, wie Gruppe Gr. Culte u. Mythen 1, 640 versteht,
der übrigens sehr richtig gegen Abels Behandlung der teletai protestirt]
Plato Rep. 2, 364 E 365 A) sich bezogen und fast nothwendig (den ieros
logos zu den dromena bietend) von dem Mittelpunkt des orgiastischen
Cultes, dem wichtigsten Gegenstand der orphischen teletai (s. Diodor.
5, 75, 4 Clem. Al. coh. p. 11 D), dem Nacherleben der pathe tou Dionusou
reden mussten.
2) Eines der Gedichte (vermuthlich doch das der Raphodiai, also der
ieros logos, liess den Orpheus sich ausdrücklich auf die ihm zu Theil gewor-
dene Offenbarung durch Apollo berufen: fr. 49 (Lobeck 469).
3) Ausser den drei, bei Damascius unterschiedenen Theogonien hat
es (von andern zweifelhaften Spuren abgesehen) mindestens noch zwei
andere Variationen des gleichen Themas gegeben: s. fr. 85 (Alex. Aphrod.),
fr. 37; 38 (Clem. Rom.). Vgl. Gruppe, Gr. Culte u. Mythen 1, 640 f. --
Mit keiner andern Theogonie, wohl aber z. Th. mit Lactant. inst. 1, 13

von der Onomakritos gedichtet haben soll, sehr wohl einen
Mittelpunkt gebildet haben 1).

Glaube und religiöser Gebrauch der Secte war auf den
Ausführungen sehr zahlreicher Schriften ritualen und theolo-
gischen Inhalts begründet, die, auf das Ansehen göttlicher
Offenbarungen Anspruch machend 2), sämmtlich als Werke des
Sängers thrakischer Vorzeit, des Orpheus selbst gelten wollten.
Die Hülle, welche die wahren Verfasser jener Dichtungen ver-
barg, muss nicht sehr dicht gewesen sein: noch gegen Ende
des vierten Jahrhunderts meinte man mit Bestimmtheit die
Urheber der einzelnen Gedichte nennen zu können. Eigent-
lich kanonisches Ansehen, vor dem jede abweichende Anschau-
ung und Darstellung zum Schweigen gekommen wäre, scheint
keine dieser Schriften genossen zu haben; insbesondere der
theogonischen Dichtungen, in denen sich die Grundvorstel-
lungen orphischer religiöser Speculation zu gestalten versuchten,
gab es manche 3), die bei aller Uebereinstimmung in der Haupt-

1) Onom. εἶναι τοὺς Τιτᾶνας τῷ Διονύσῳ τῶν παϑημάτων ἐποίησεν
αὐτουργούς. Paus. 8, 37, 5. An die „Theogonie“ denkt hierbei Lobeck,
Agl. 335: aber Niemand giebt irgend eine der mehreren orphischen Theo-
gonien dem Onomakritos als deren wahrem Verfasser. Man wird eher
an die τελεταί denken dürfen, die dem On. ausdrücklich zugeschrieben
werden, jedenfalls ja auf den praktischen Gottesdienst (die λύσεις, καϑαρ-
μοὶ ἀδικημάτων κτλ. ἃς δὴ τελετὰς καλοῦσιν [nicht: die mystischen βίβλοι
nennen sie τελετάς, wie Gruppe Gr. Culte u. Mythen 1, 640 versteht,
der übrigens sehr richtig gegen Abels Behandlung der τελεταί protestirt]
Plato Rep. 2, 364 E 365 A) sich bezogen und fast nothwendig (den ἱερὸς
λόγος zu den δρώμενα bietend) von dem Mittelpunkt des orgiastischen
Cultes, dem wichtigsten Gegenstand der orphischen τελεταί (s. Diodor.
5, 75, 4 Clem. Al. coh. p. 11 D), dem Nacherleben der πάϑη τοῦ Διονύσου
reden mussten.
2) Eines der Gedichte (vermuthlich doch das der ῥαφῳδίαι, also der
ἱερὸς λόγος, liess den Orpheus sich ausdrücklich auf die ihm zu Theil gewor-
dene Offenbarung durch Apollo berufen: fr. 49 (Lobeck 469).
3) Ausser den drei, bei Damascius unterschiedenen Theogonien hat
es (von andern zweifelhaften Spuren abgesehen) mindestens noch zwei
andere Variationen des gleichen Themas gegeben: s. fr. 85 (Alex. Aphrod.),
fr. 37; 38 (Clem. Rom.). Vgl. Gruppe, Gr. Culte u. Mythen 1, 640 f. —
Mit keiner andern Theogonie, wohl aber z. Th. mit Lactant. inst. 1, 13
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[404/0420] von der Onomakritos gedichtet haben soll, sehr wohl einen Mittelpunkt gebildet haben 1). Glaube und religiöser Gebrauch der Secte war auf den Ausführungen sehr zahlreicher Schriften ritualen und theolo- gischen Inhalts begründet, die, auf das Ansehen göttlicher Offenbarungen Anspruch machend 2), sämmtlich als Werke des Sängers thrakischer Vorzeit, des Orpheus selbst gelten wollten. Die Hülle, welche die wahren Verfasser jener Dichtungen ver- barg, muss nicht sehr dicht gewesen sein: noch gegen Ende des vierten Jahrhunderts meinte man mit Bestimmtheit die Urheber der einzelnen Gedichte nennen zu können. Eigent- lich kanonisches Ansehen, vor dem jede abweichende Anschau- ung und Darstellung zum Schweigen gekommen wäre, scheint keine dieser Schriften genossen zu haben; insbesondere der theogonischen Dichtungen, in denen sich die Grundvorstel- lungen orphischer religiöser Speculation zu gestalten versuchten, gab es manche 3), die bei aller Uebereinstimmung in der Haupt- 1) Onom. εἶναι τοὺς Τιτᾶνας τῷ Διονύσῳ τῶν παϑημάτων ἐποίησεν αὐτουργούς. Paus. 8, 37, 5. An die „Theogonie“ denkt hierbei Lobeck, Agl. 335: aber Niemand giebt irgend eine der mehreren orphischen Theo- gonien dem Onomakritos als deren wahrem Verfasser. Man wird eher an die τελεταί denken dürfen, die dem On. ausdrücklich zugeschrieben werden, jedenfalls ja auf den praktischen Gottesdienst (die λύσεις, καϑαρ- μοὶ ἀδικημάτων κτλ. ἃς δὴ τελετὰς καλοῦσιν [nicht: die mystischen βίβλοι nennen sie τελετάς, wie Gruppe Gr. Culte u. Mythen 1, 640 versteht, der übrigens sehr richtig gegen Abels Behandlung der τελεταί protestirt] Plato Rep. 2, 364 E 365 A) sich bezogen und fast nothwendig (den ἱερὸς λόγος zu den δρώμενα bietend) von dem Mittelpunkt des orgiastischen Cultes, dem wichtigsten Gegenstand der orphischen τελεταί (s. Diodor. 5, 75, 4 Clem. Al. coh. p. 11 D), dem Nacherleben der πάϑη τοῦ Διονύσου reden mussten. 2) Eines der Gedichte (vermuthlich doch das der ῥαφῳδίαι, also der ἱερὸς λόγος, liess den Orpheus sich ausdrücklich auf die ihm zu Theil gewor- dene Offenbarung durch Apollo berufen: fr. 49 (Lobeck 469). 3) Ausser den drei, bei Damascius unterschiedenen Theogonien hat es (von andern zweifelhaften Spuren abgesehen) mindestens noch zwei andere Variationen des gleichen Themas gegeben: s. fr. 85 (Alex. Aphrod.), fr. 37; 38 (Clem. Rom.). Vgl. Gruppe, Gr. Culte u. Mythen 1, 640 f. — Mit keiner andern Theogonie, wohl aber z. Th. mit Lactant. inst. 1, 13

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/420>, abgerufen am 22.11.2024.