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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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sophie zu werden strebte. Auch die orphische Religionsdich-
tung ist merklich von diesem Bestreben erfüllt; aber im Be-
streben erstarrt sie, und gelangt nicht zu ihrem Ziele.

Der Punct des Hervorspringens dieser religiös-theosophi-
schen Bewegung, Gang und Art ihrer Ausbreitung bleiben uns
verborgen. Athen bildete einen Mittelpunct orphischen Wesens;
entstanden muss es nicht nothwendig dort sein, so wenig wie
vielfache Bestrebung und Thätigkeit in Kunst, Dichtung und
Wissenschaft, die seit der gleichen Zeit, wie durch einen gei-
stigen Zwang angezogen, nach Athen als dem gemeinsamen
Mittelpunct zu strömen begann. Onomakritos, heisst es, der
Orakelverkünder am Hofe des Peisistratos, habe "dem Dionysos
Geheimdienste gestiftet" 1). Hiemit scheint die erste Begrün-
dung einer orphischen Secte in Athen bezeichnet zu sein.
Onomakritos begegnet auch unter den Verfassern orphischer
Gedichte. Aber deren Mehrzahl wird, als den wahren Ver-
fassern, Männern zugeschrieben, deren Heimath in Unteritalien
und Sicilien lag, und deren Verbindung mit den Kreisen des,
in jenen Gegenden in den letzten Jahrzehnten des sechsten,
den ersten des fünften Jahrhunderts blühenden Pythagoreer-
thums mehr oder weniger deutlich wird 2). Es scheint gewiss,

1) Onomakritos -- Dionuso sunetheken orgia Paus. 8, 37, 5.
2) Unter den Verfassern orphischer Gedichte die (nach Epigenes)
Clemens Strom. I p. 333 A und (nach Epigenes und einem zweiten Ge-
währsmann, beide wohl durch Dionys von Halikarnass den jüngeren ver-
mittelt) Suidas nennen, sind sicher Pythagoreer Brotinos (von Kroton
oder Metapont) und Kerkops (nicht der Milesier). Aus Unteritalien
oder Sicilien stammen Zopyros von Heraklea (wohl denselben meint
Jamblich. V. Pyth. p. 190, 5 N., wo er Zopyros zu den aus Tarent
stammenden P thagoreern rechnet), Orpheus von Kroton, Orpheus
von Kamarina
(Suid.), Timokles von Syrakus. Den Pythagoras
selbst nannten unter den Verfassern orphischer Gedichte die (mindestens
schon Anf. des 4. Jahrh. geschriebenen) Triagmoi des Pseudo-Jon. --
Sonst werden unter den vermutheten Urhebern orphischer Gedichte noch
genannt Theognetos o Thettalos, Prodikos von Samos, Herodikos
von Perinth, Persinos von Milet, alle uns unbekannt ausser Persinos,
den Obrecht nicht unwahrscheinlich mit dem von Pollux 9, 23 genannten
Hofpoeten des Eubulos von Atarneus identificirt (vgl. Lobeck. Agl. 359 f.
Bergk. Poet. Lyr. 4 3, 655). Dies also ein Orphiker schon jüngerer Zeit.

sophie zu werden strebte. Auch die orphische Religionsdich-
tung ist merklich von diesem Bestreben erfüllt; aber im Be-
streben erstarrt sie, und gelangt nicht zu ihrem Ziele.

Der Punct des Hervorspringens dieser religiös-theosophi-
schen Bewegung, Gang und Art ihrer Ausbreitung bleiben uns
verborgen. Athen bildete einen Mittelpunct orphischen Wesens;
entstanden muss es nicht nothwendig dort sein, so wenig wie
vielfache Bestrebung und Thätigkeit in Kunst, Dichtung und
Wissenschaft, die seit der gleichen Zeit, wie durch einen gei-
stigen Zwang angezogen, nach Athen als dem gemeinsamen
Mittelpunct zu strömen begann. Onomakritos, heisst es, der
Orakelverkünder am Hofe des Peisistratos, habe „dem Dionysos
Geheimdienste gestiftet“ 1). Hiemit scheint die erste Begrün-
dung einer orphischen Secte in Athen bezeichnet zu sein.
Onomakritos begegnet auch unter den Verfassern orphischer
Gedichte. Aber deren Mehrzahl wird, als den wahren Ver-
fassern, Männern zugeschrieben, deren Heimath in Unteritalien
und Sicilien lag, und deren Verbindung mit den Kreisen des,
in jenen Gegenden in den letzten Jahrzehnten des sechsten,
den ersten des fünften Jahrhunderts blühenden Pythagoreer-
thums mehr oder weniger deutlich wird 2). Es scheint gewiss,

1) Ὀνομάκριτος — Διονύσῳ συνέϑηκεν ὄργια Paus. 8, 37, 5.
2) Unter den Verfassern orphischer Gedichte die (nach Epigenes)
Clemens Strom. I p. 333 A und (nach Epigenes und einem zweiten Ge-
währsmann, beide wohl durch Dionys von Halikarnass den jüngeren ver-
mittelt) Suidas nennen, sind sicher Pythagoreer Brotinos (von Kroton
oder Metapont) und Kerkops (nicht der Milesier). Aus Unteritalien
oder Sicilien stammen Zopyros von Heraklea (wohl denselben meint
Jamblich. V. Pyth. p. 190, 5 N., wo er Zopyros zu den aus Tarent
stammenden P thagoreern rechnet), Orpheus von Kroton, Orpheus
von Kamarina
(Suid.), Timokles von Syrakus. Den Pythagoras
selbst nannten unter den Verfassern orphischer Gedichte die (mindestens
schon Anf. des 4. Jahrh. geschriebenen) Τριαγμοί des Pseudo-Jon. —
Sonst werden unter den vermutheten Urhebern orphischer Gedichte noch
genannt Theognetos ὁ Θετταλός, Prodikos von Samos, Herodikos
von Perinth, Persinos von Milet, alle uns unbekannt ausser Persinos,
den Obrecht nicht unwahrscheinlich mit dem von Pollux 9, 23 genannten
Hofpoeten des Eubulos von Atarneus identificirt (vgl. Lobeck. Agl. 359 f.
Bergk. Poet. Lyr. 4 3, 655). Dies also ein Orphiker schon jüngerer Zeit.
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[398/0414] sophie zu werden strebte. Auch die orphische Religionsdich- tung ist merklich von diesem Bestreben erfüllt; aber im Be- streben erstarrt sie, und gelangt nicht zu ihrem Ziele. Der Punct des Hervorspringens dieser religiös-theosophi- schen Bewegung, Gang und Art ihrer Ausbreitung bleiben uns verborgen. Athen bildete einen Mittelpunct orphischen Wesens; entstanden muss es nicht nothwendig dort sein, so wenig wie vielfache Bestrebung und Thätigkeit in Kunst, Dichtung und Wissenschaft, die seit der gleichen Zeit, wie durch einen gei- stigen Zwang angezogen, nach Athen als dem gemeinsamen Mittelpunct zu strömen begann. Onomakritos, heisst es, der Orakelverkünder am Hofe des Peisistratos, habe „dem Dionysos Geheimdienste gestiftet“ 1). Hiemit scheint die erste Begrün- dung einer orphischen Secte in Athen bezeichnet zu sein. Onomakritos begegnet auch unter den Verfassern orphischer Gedichte. Aber deren Mehrzahl wird, als den wahren Ver- fassern, Männern zugeschrieben, deren Heimath in Unteritalien und Sicilien lag, und deren Verbindung mit den Kreisen des, in jenen Gegenden in den letzten Jahrzehnten des sechsten, den ersten des fünften Jahrhunderts blühenden Pythagoreer- thums mehr oder weniger deutlich wird 2). Es scheint gewiss, 1) Ὀνομάκριτος — Διονύσῳ συνέϑηκεν ὄργια Paus. 8, 37, 5. 2) Unter den Verfassern orphischer Gedichte die (nach Epigenes) Clemens Strom. I p. 333 A und (nach Epigenes und einem zweiten Ge- währsmann, beide wohl durch Dionys von Halikarnass den jüngeren ver- mittelt) Suidas nennen, sind sicher Pythagoreer Brotinos (von Kroton oder Metapont) und Kerkops (nicht der Milesier). Aus Unteritalien oder Sicilien stammen Zopyros von Heraklea (wohl denselben meint Jamblich. V. Pyth. p. 190, 5 N., wo er Zopyros zu den aus Tarent stammenden P thagoreern rechnet), Orpheus von Kroton, Orpheus von Kamarina (Suid.), Timokles von Syrakus. Den Pythagoras selbst nannten unter den Verfassern orphischer Gedichte die (mindestens schon Anf. des 4. Jahrh. geschriebenen) Τριαγμοί des Pseudo-Jon. — Sonst werden unter den vermutheten Urhebern orphischer Gedichte noch genannt Theognetos ὁ Θετταλός, Prodikos von Samos, Herodikos von Perinth, Persinos von Milet, alle uns unbekannt ausser Persinos, den Obrecht nicht unwahrscheinlich mit dem von Pollux 9, 23 genannten Hofpoeten des Eubulos von Atarneus identificirt (vgl. Lobeck. Agl. 359 f. Bergk. Poet. Lyr. 4 3, 655). Dies also ein Orphiker schon jüngerer Zeit.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/414>, abgerufen am 25.11.2024.