der "Befleckung" und deren Beseitigung durch die Mittel einer religiösen Reinigungskunst, ist ein Hauptkennzeichen der angst- beflissenen, über die Heilsmittel des von den Vätern ererbten Cultes hinausgreifenden Frömmigkeit nachhomerischer Zeit. Denkt man vorzugsweise daran, dass nun auch solche Hand- lungen eine Reinigung fordern, die, wie Mord und Blutver- giessen, eine moralische Bedrückung des Thäters voraussetzen lassen 1), so ist man leicht versucht, in der Entwicklung der Kathartik ein Stück der Geschichte der griechischen Moral zu sehen, als ihren Grund sich eine zartere und tiefere Ausbildung des "Gewissens" zu denken, das von den Flecken der "Sünde" durch religiöse Hülfe rein zu werden sich gesehnt habe. Aber eine solche (sehr beliebte) Auslegung der Kathartik verschliesst sich selbst die Einsicht in deren wahren Sinn und wirkliches Wesen. Mit einer selbständig entwickelten, auf den bleibenden Forderungen eines über allem persönlichen Wollen und Be- lieben, auch der dämonischen Machthaber, stehenden Sitten- gesetzes begründeten Moral ist, in späteren Zeiten, die Ka- thartik wohl in Wettstreit und Widerstreit, sehr selten in förderlichen Einklang getreten. Ihrem Ursprung und Wesen nach steht sie zur Sittlichkeit und dem, was wir die Stimme des Gewissens nennen würden, in keiner Beziehung. Es be- gleitet und fordert ihre Ausübung kein Gefühl der Schuld, der eigenen inneren Verschuldung, der eigenen Verantwortlichkeit. Alles, was uns von kathartischen Uebungen begegnet, lässt dies erkennen und verstehen.
Ceremonien der "Reinigung" begleiten das menschliche Leben in seinem ganzen Verlauf. "Unrein" ist die Wöchnerin
Gebräuche erst ziemlich spät in Griechenland sich ausgebreitet haben müssen, zeigt besonders das Fehlen fast jeder Anspielung auf solche Ge- bräuche und die ihnen zu Grunde liegenden Suggestionen in Hesiods Erga kai Emerai, die doch des bäuerlichen Aberglaubens sonst so viel enthalten (allenfalls findet sich dergleichen v. 733--736).
1) Homer weiss noch nichts von Reinigung des Mörders oder Todt- schlägers, s. oben p. 248, 1.
der „Befleckung“ und deren Beseitigung durch die Mittel einer religiösen Reinigungskunst, ist ein Hauptkennzeichen der angst- beflissenen, über die Heilsmittel des von den Vätern ererbten Cultes hinausgreifenden Frömmigkeit nachhomerischer Zeit. Denkt man vorzugsweise daran, dass nun auch solche Hand- lungen eine Reinigung fordern, die, wie Mord und Blutver- giessen, eine moralische Bedrückung des Thäters voraussetzen lassen 1), so ist man leicht versucht, in der Entwicklung der Kathartik ein Stück der Geschichte der griechischen Moral zu sehen, als ihren Grund sich eine zartere und tiefere Ausbildung des „Gewissens“ zu denken, das von den Flecken der „Sünde“ durch religiöse Hülfe rein zu werden sich gesehnt habe. Aber eine solche (sehr beliebte) Auslegung der Kathartik verschliesst sich selbst die Einsicht in deren wahren Sinn und wirkliches Wesen. Mit einer selbständig entwickelten, auf den bleibenden Forderungen eines über allem persönlichen Wollen und Be- lieben, auch der dämonischen Machthaber, stehenden Sitten- gesetzes begründeten Moral ist, in späteren Zeiten, die Ka- thartik wohl in Wettstreit und Widerstreit, sehr selten in förderlichen Einklang getreten. Ihrem Ursprung und Wesen nach steht sie zur Sittlichkeit und dem, was wir die Stimme des Gewissens nennen würden, in keiner Beziehung. Es be- gleitet und fordert ihre Ausübung kein Gefühl der Schuld, der eigenen inneren Verschuldung, der eigenen Verantwortlichkeit. Alles, was uns von kathartischen Uebungen begegnet, lässt dies erkennen und verstehen.
Ceremonien der „Reinigung“ begleiten das menschliche Leben in seinem ganzen Verlauf. „Unrein“ ist die Wöchnerin
Gebräuche erst ziemlich spät in Griechenland sich ausgebreitet haben müssen, zeigt besonders das Fehlen fast jeder Anspielung auf solche Ge- bräuche und die ihnen zu Grunde liegenden Suggestionen in Hesiods Ἔργα καὶ Ἡμέραι, die doch des bäuerlichen Aberglaubens sonst so viel enthalten (allenfalls findet sich dergleichen v. 733—736).
1) Homer weiss noch nichts von Reinigung des Mörders oder Todt- schlägers, s. oben p. 248, 1.
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der „Befleckung“ und deren Beseitigung durch die Mittel einer
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Cultes hinausgreifenden Frömmigkeit nachhomerischer Zeit.
Denkt man vorzugsweise daran, dass nun auch solche Hand-
lungen eine Reinigung fordern, die, wie Mord und Blutver-
giessen, eine moralische Bedrückung des Thäters voraussetzen
lassen 1), so ist man leicht versucht, in der Entwicklung der
Kathartik ein Stück der Geschichte der griechischen Moral zu
sehen, als ihren Grund sich eine zartere und tiefere Ausbildung
des „Gewissens“ zu denken, das von den Flecken der „Sünde“
durch religiöse Hülfe rein zu werden sich gesehnt habe. Aber
eine solche (sehr beliebte) Auslegung der Kathartik verschliesst
sich selbst die Einsicht in deren wahren Sinn und wirkliches
Wesen. Mit einer selbständig entwickelten, auf den bleibenden
Forderungen eines über allem persönlichen Wollen und Be-
lieben, auch der dämonischen Machthaber, stehenden Sitten-
gesetzes begründeten Moral ist, in späteren Zeiten, die Ka-
thartik wohl in Wettstreit und Widerstreit, sehr selten in
förderlichen Einklang getreten. Ihrem Ursprung und Wesen
nach steht sie zur Sittlichkeit und dem, was wir die Stimme
des Gewissens nennen würden, in keiner Beziehung. Es be-
gleitet und fordert ihre Ausübung kein Gefühl der Schuld, der
eigenen inneren Verschuldung, der eigenen Verantwortlichkeit.
Alles, was uns von kathartischen Uebungen begegnet, lässt
dies erkennen und verstehen.
Ceremonien der „Reinigung“ begleiten das menschliche
Leben in seinem ganzen Verlauf. „Unrein“ ist die Wöchnerin
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1) Homer weiss noch nichts von Reinigung des Mörders oder Todt-
schlägers, s. oben p. 248, 1.
3) Gebräuche erst ziemlich spät in Griechenland sich ausgebreitet haben
müssen, zeigt besonders das Fehlen fast jeder Anspielung auf solche Ge-
bräuche und die ihnen zu Grunde liegenden Suggestionen in Hesiods
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enthalten (allenfalls findet sich dergleichen v. 733—736).
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/375>, abgerufen am 22.11.2024.
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