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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Wir dürfen in dem, was uns von der Art dieser Pro-
pheten berichtet wird, Schattenbilder einer einst sehr leben-
digen Wirklichkeit erkennen, Erinnerungen an sehr auffallende
und eben darum nie ganz dem Gedächtniss entschwundene
Erscheinungen des Religionslebens der Griechen. Die Bakiden
und Sibyllen sind einzelne, nicht ausserhalb alles Zusammen-
hanges mit geordnetem Göttercult stehende, aber an keinen
Tempelsitz gebundene, nach Bedürfniss den Rathsuchenden zu-

phile) auf ol. 17, 1 (auf Eratosthenes diesen Ansatz zurückzuführen wäre
grundlose Willkür); bei Suidas s. Sibulla Apollonos kai Lamias die ery-
thräische Sibylle 483 nach Einn. von Troja, das wäre ol. 20, 1 (700).
Heraklides Pont. setzt die phrygisch-troische Sibylle in die Zeit des Cyrus
und Solon (wohin auch Epimenides gehört, Aristeas und Abaris gesetzt
werden). Die Gründe für diese Zeitbestimmungen lassen sich nicht mehr
erkennen oder errathen. Auf jeden Fall schien den Chronologen, auf die
sie zurückgehen, die Sibylle jünger als die ältesten Pythien in Delphi. --
Auch die cumaeische Sibylle sollte nicht verschieden sein von der ery-
thraeischen ([Aristot.] mirab. 95 vielleicht nach Timaeus; Varro ap. Serv.
Aen. 6, 36; vgl. Dionys. ant. 4, 62, 6) und gleichwohl Zeitgenossin des
Tarquinius Priscus (die Cimmeria in Italia, die dem Aeneas weissagte,
unterschied man eben darum von der cumaeischen: Naevius und Calp. Piso
bei Varro, Lact. 1, 6, 9). Freilich half man sich hier mit dem in chrono-
logischen Nöthen beliebten Mittel der Annahme fabelhaft langer Lebens-
dauer. Die Sibylle ist polukhroniotate (Ps. Aristot); sie lebt tausend
Jahre oder doch fast so lange (Phlegon. macrob. 4. Das dort angeführte
Sibyllenorakel hat auch Plutarch de Pyth. orac. 13 vor Augen. Aus
gleicher Quelle Ovid, Metam. 14, 132--153. Dort hat freilich die Sibylle
schon bis zu der Ankunft des Aeneas 700 Jahre gelebt; sie wird noch
300 Jahre leben, d. h. wohl etwa -- ungenau gerechnet -- bis zu der
Zeit des Tarquinius Priscus). In den bei Erythrae gefundenen, auf ein
Standbild der Sibylle bezüglichen Versen (Buresch, Wochenschr. f. klass.
Philol. 1891, p. 1042, Athen. Mittheil. 1892, p. 20) wird der erythräischen
Sibylle eine Lebensdauer von neunhundert Jahren gegeben -- man sieht
nicht recht, ob bis zu der Zeit der Inschrift selbst und des neos ktistes von
Erythrae aus der Antoninenzeit, auf den der Schluss hinweist. Darnach
wäre diese Sibylle etwa 700 v. Chr. (wie bei Suidas) oder etwas früher
geboren. (Vielleicht aber gilt die lange Lebensdauer von der vor langen
Jahrhunderten verstorbenen Sibylle selbst, das authis denthade ego emai --
v. 11 f. nur von ihrem Standbilde. Dann bliebe Anfang und Ende der
Lebenszeit der Sib. unbestimmt) -- Cumaeae saecula vatis sprichwörtlich
geworden: s. Alexandre p. 57. Zuletzt gilt die Sibylle (wie in der Er-
zählung bei Petron) für ganz vom Tode vergessen.
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Wir dürfen in dem, was uns von der Art dieser Pro-
pheten berichtet wird, Schattenbilder einer einst sehr leben-
digen Wirklichkeit erkennen, Erinnerungen an sehr auffallende
und eben darum nie ganz dem Gedächtniss entschwundene
Erscheinungen des Religionslebens der Griechen. Die Bakiden
und Sibyllen sind einzelne, nicht ausserhalb alles Zusammen-
hanges mit geordnetem Göttercult stehende, aber an keinen
Tempelsitz gebundene, nach Bedürfniss den Rathsuchenden zu-

phile) auf ol. 17, 1 (auf Eratosthenes diesen Ansatz zurückzuführen wäre
grundlose Willkür); bei Suidas s. Σίβυλλα Ἀπόλλωνος καὶ Λαμίας die ery-
thräische Sibylle 483 nach Einn. von Troja, das wäre ol. 20, 1 (700).
Heraklides Pont. setzt die phrygisch-troische Sibylle in die Zeit des Cyrus
und Solon (wohin auch Epimenides gehört, Aristeas und Abaris gesetzt
werden). Die Gründe für diese Zeitbestimmungen lassen sich nicht mehr
erkennen oder errathen. Auf jeden Fall schien den Chronologen, auf die
sie zurückgehen, die Sibylle jünger als die ältesten Pythien in Delphi. —
Auch die cumaeische Sibylle sollte nicht verschieden sein von der ery-
thraeischen ([Aristot.] mirab. 95 vielleicht nach Timaeus; Varro ap. Serv.
Aen. 6, 36; vgl. Dionys. ant. 4, 62, 6) und gleichwohl Zeitgenossin des
Tarquinius Priscus (die Cimmeria in Italia, die dem Aeneas weissagte,
unterschied man eben darum von der cumaeischen: Naevius und Calp. Piso
bei Varro, Lact. 1, 6, 9). Freilich half man sich hier mit dem in chrono-
logischen Nöthen beliebten Mittel der Annahme fabelhaft langer Lebens-
dauer. Die Sibylle ist πολυχρονιωτάτη (Ps. Aristot); sie lebt tausend
Jahre oder doch fast so lange (Phlegon. macrob. 4. Das dort angeführte
Sibyllenorakel hat auch Plutarch de Pyth. orac. 13 vor Augen. Aus
gleicher Quelle Ovid, Metam. 14, 132—153. Dort hat freilich die Sibylle
schon bis zu der Ankunft des Aeneas 700 Jahre gelebt; sie wird noch
300 Jahre leben, d. h. wohl etwa — ungenau gerechnet — bis zu der
Zeit des Tarquinius Priscus). In den bei Erythrae gefundenen, auf ein
Standbild der Sibylle bezüglichen Versen (Buresch, Wochenschr. f. klass.
Philol. 1891, p. 1042, Athen. Mittheil. 1892, p. 20) wird der erythräischen
Sibylle eine Lebensdauer von neunhundert Jahren gegeben — man sieht
nicht recht, ob bis zu der Zeit der Inschrift selbst und des νέος κτίστης von
Erythrae aus der Antoninenzeit, auf den der Schluss hinweist. Darnach
wäre diese Sibylle etwa 700 v. Chr. (wie bei Suidas) oder etwas früher
geboren. (Vielleicht aber gilt die lange Lebensdauer von der vor langen
Jahrhunderten verstorbenen Sibylle selbst, das αὖϑις δ̕ἐνϑάδε ἐγὼ ἧμαι —
v. 11 f. nur von ihrem Standbilde. Dann bliebe Anfang und Ende der
Lebenszeit der Sib. unbestimmt) — Cumaeae saecula vatis sprichwörtlich
geworden: s. Alexandre p. 57. Zuletzt gilt die Sibylle (wie in der Er-
zählung bei Petron) für ganz vom Tode vergessen.
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[355/0371] Wir dürfen in dem, was uns von der Art dieser Pro- pheten berichtet wird, Schattenbilder einer einst sehr leben- digen Wirklichkeit erkennen, Erinnerungen an sehr auffallende und eben darum nie ganz dem Gedächtniss entschwundene Erscheinungen des Religionslebens der Griechen. Die Bakiden und Sibyllen sind einzelne, nicht ausserhalb alles Zusammen- hanges mit geordnetem Göttercult stehende, aber an keinen Tempelsitz gebundene, nach Bedürfniss den Rathsuchenden zu- 1) 1) phile) auf ol. 17, 1 (auf Eratosthenes diesen Ansatz zurückzuführen wäre grundlose Willkür); bei Suidas s. Σίβυλλα Ἀπόλλωνος καὶ Λαμίας die ery- thräische Sibylle 483 nach Einn. von Troja, das wäre ol. 20, 1 (700). Heraklides Pont. setzt die phrygisch-troische Sibylle in die Zeit des Cyrus und Solon (wohin auch Epimenides gehört, Aristeas und Abaris gesetzt werden). Die Gründe für diese Zeitbestimmungen lassen sich nicht mehr erkennen oder errathen. Auf jeden Fall schien den Chronologen, auf die sie zurückgehen, die Sibylle jünger als die ältesten Pythien in Delphi. — Auch die cumaeische Sibylle sollte nicht verschieden sein von der ery- thraeischen ([Aristot.] mirab. 95 vielleicht nach Timaeus; Varro ap. Serv. Aen. 6, 36; vgl. Dionys. ant. 4, 62, 6) und gleichwohl Zeitgenossin des Tarquinius Priscus (die Cimmeria in Italia, die dem Aeneas weissagte, unterschied man eben darum von der cumaeischen: Naevius und Calp. Piso bei Varro, Lact. 1, 6, 9). Freilich half man sich hier mit dem in chrono- logischen Nöthen beliebten Mittel der Annahme fabelhaft langer Lebens- dauer. Die Sibylle ist πολυχρονιωτάτη (Ps. Aristot); sie lebt tausend Jahre oder doch fast so lange (Phlegon. macrob. 4. Das dort angeführte Sibyllenorakel hat auch Plutarch de Pyth. orac. 13 vor Augen. Aus gleicher Quelle Ovid, Metam. 14, 132—153. Dort hat freilich die Sibylle schon bis zu der Ankunft des Aeneas 700 Jahre gelebt; sie wird noch 300 Jahre leben, d. h. wohl etwa — ungenau gerechnet — bis zu der Zeit des Tarquinius Priscus). In den bei Erythrae gefundenen, auf ein Standbild der Sibylle bezüglichen Versen (Buresch, Wochenschr. f. klass. Philol. 1891, p. 1042, Athen. Mittheil. 1892, p. 20) wird der erythräischen Sibylle eine Lebensdauer von neunhundert Jahren gegeben — man sieht nicht recht, ob bis zu der Zeit der Inschrift selbst und des νέος κτίστης von Erythrae aus der Antoninenzeit, auf den der Schluss hinweist. Darnach wäre diese Sibylle etwa 700 v. Chr. (wie bei Suidas) oder etwas früher geboren. (Vielleicht aber gilt die lange Lebensdauer von der vor langen Jahrhunderten verstorbenen Sibylle selbst, das αὖϑις δ̕ἐνϑάδε ἐγὼ ἧμαι — v. 11 f. nur von ihrem Standbilde. Dann bliebe Anfang und Ende der Lebenszeit der Sib. unbestimmt) — Cumaeae saecula vatis sprichwörtlich geworden: s. Alexandre p. 57. Zuletzt gilt die Sibylle (wie in der Er- zählung bei Petron) für ganz vom Tode vergessen. 23*

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/371>, abgerufen am 25.11.2024.