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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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voranliegt. Die spätere, von philosophischem Aufklärungstriebe
beherrschte Zeit machte auf das Fortwirken der göttlichen
Begnadung, die einst die Sibylle und den Bakis zu ihren
Weisheitsblicken befähigt hatte, in der eigenen Gegenwart so
wenig Anspruch, dass sich Propheten aus zweiter Hand, wie
sie damals in Massen aufstanden, zu begnügen pflegten, ge-
schriebene Orakelsprüche, in denen die Vorhersagungen der
alten gottbegeisterten Seher festgehalten sein sollten, hervor
zu ziehen und bei nüchternen Sinnen auszulegen 1). Das Zeit-
alter der enthusiastischen Propheten lag also damals ab-
geschlossen in der Vergangenheit. Eben jene damals auf-
tauchende Litteratur der sibyllinisch-bakidischen Wahrsprüche,
die ja unendlichen Anwachsens fähig war, hat dann freilich
beigetragen, die Gestalten der Träger jener verschollenen Pro-
phetengabe vollends im mythischen Nebel zu verflüchtigen.
Immer höher schob sich hier die Reihe der Ereignisse hinauf,
die sie vorausgesagt haben sollten, und immer mehr wich die,
vor den frühesten vorausgesagten Ereignissen anzusetzende
Lebenszeit der Propheten in urälteste Vergangenheit zurück 2).

1) Von dieser Art waren die khresmologoi des fünften und vierten,
auch schon des ausgehenden sechsten Jahrhunderts (denn Onomakritos
gehört völlig in diese Reihe). S. Lobeck, Agl. p. 978 ff. und 332. Sehr
selten hört man in diesen Zeiten noch von selbständig, im furor divinus,
Wahrsagenden, wie von jenem Amphilytos aus Akarnanien, der dem Pisi-
stratos, als er aus Eretria zurückkehrte vor der Schlacht epi Pallenidi
begegnete und entheazon weissagte (Herod. 1, 62; Athener heisst er bei
[Plat.] Theag. 134 D -- wo er neben Bakis te kai Sibulla gestellt wird
-- und Clemens Al. Strom. I 333 C). So traten vereinzelt auch spät noch
"Sibyllen" auf (Phaennis, Athenais: s. Alexandre, Orac. Sibyll.1 II p. 21. 48).
2) Bestimmt von zwei Sibyllen, der Herophile aus Erythrae und
der phrygischen Sibylle (die er mit der S. aus Marpessos oder Gergis
[Lactant. 1, 6, 12] identificirte: s. Alexandre Orac. Sibyll. 2 p. 25. 32) scheint
zuerst Heraklides Ponticus (s. Clemens Alex. Strom. I 323 C. D.) geredet
zu haben (ihm folgt, doch so, dass er als Dritte die Sib. von Sardes
hinzufügt, Philetas Ephes. beim Schol. Ar. Av. 962). Die phrygisch-
trojanische Sibylle setzte Herakl. in die Zeit "des Solon und Cyrus"
(Lactant. a. O.); wann er die erythraeische blühen liess, wissen wir nicht.
Vielleicht erst nach seiner Zeit traten khresmoi der Herophile in die
Oeffentlichkeit, in denen sie die Troika voraussagte: aus diesen Versen
Rohde, Seelencult. 23

voranliegt. Die spätere, von philosophischem Aufklärungstriebe
beherrschte Zeit machte auf das Fortwirken der göttlichen
Begnadung, die einst die Sibylle und den Bakis zu ihren
Weisheitsblicken befähigt hatte, in der eigenen Gegenwart so
wenig Anspruch, dass sich Propheten aus zweiter Hand, wie
sie damals in Massen aufstanden, zu begnügen pflegten, ge-
schriebene Orakelsprüche, in denen die Vorhersagungen der
alten gottbegeisterten Seher festgehalten sein sollten, hervor
zu ziehen und bei nüchternen Sinnen auszulegen 1). Das Zeit-
alter der enthusiastischen Propheten lag also damals ab-
geschlossen in der Vergangenheit. Eben jene damals auf-
tauchende Litteratur der sibyllinisch-bakidischen Wahrsprüche,
die ja unendlichen Anwachsens fähig war, hat dann freilich
beigetragen, die Gestalten der Träger jener verschollenen Pro-
phetengabe vollends im mythischen Nebel zu verflüchtigen.
Immer höher schob sich hier die Reihe der Ereignisse hinauf,
die sie vorausgesagt haben sollten, und immer mehr wich die,
vor den frühesten vorausgesagten Ereignissen anzusetzende
Lebenszeit der Propheten in urälteste Vergangenheit zurück 2).

1) Von dieser Art waren die χρησμολόγοι des fünften und vierten,
auch schon des ausgehenden sechsten Jahrhunderts (denn Onomakritos
gehört völlig in diese Reihe). S. Lobeck, Agl. p. 978 ff. und 332. Sehr
selten hört man in diesen Zeiten noch von selbständig, im furor divinus,
Wahrsagenden, wie von jenem Amphilytos aus Akarnanien, der dem Pisi-
stratos, als er aus Eretria zurückkehrte vor der Schlacht ἐπὶ Παλληνίδι
begegnete und ἐνϑεάζων weissagte (Herod. 1, 62; Athener heisst er bei
[Plat.] Theag. 134 D — wo er neben Βάκις τε καὶ Σίβυλλα gestellt wird
— und Clemens Al. Strom. I 333 C). So traten vereinzelt auch spät noch
„Sibyllen“ auf (Phaennis, Athenaïs: s. Alexandre, Orac. Sibyll.1 II p. 21. 48).
2) Bestimmt von zwei Sibyllen, der Herophile aus Erythrae und
der phrygischen Sibylle (die er mit der S. aus Marpessos oder Gergis
[Lactant. 1, 6, 12] identificirte: s. Alexandre Orac. Sibyll. 2 p. 25. 32) scheint
zuerst Heraklides Ponticus (s. Clemens Alex. Strom. I 323 C. D.) geredet
zu haben (ihm folgt, doch so, dass er als Dritte die Sib. von Sardes
hinzufügt, Philetas Ephes. beim Schol. Ar. Av. 962). Die phrygisch-
trojanische Sibylle setzte Herakl. in die Zeit „des Solon und Cyrus“
(Lactant. a. O.); wann er die erythraeische blühen liess, wissen wir nicht.
Vielleicht erst nach seiner Zeit traten χρησμοί der Herophile in die
Oeffentlichkeit, in denen sie die Τρωϊκά voraussagte: aus diesen Versen
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[353/0369] voranliegt. Die spätere, von philosophischem Aufklärungstriebe beherrschte Zeit machte auf das Fortwirken der göttlichen Begnadung, die einst die Sibylle und den Bakis zu ihren Weisheitsblicken befähigt hatte, in der eigenen Gegenwart so wenig Anspruch, dass sich Propheten aus zweiter Hand, wie sie damals in Massen aufstanden, zu begnügen pflegten, ge- schriebene Orakelsprüche, in denen die Vorhersagungen der alten gottbegeisterten Seher festgehalten sein sollten, hervor zu ziehen und bei nüchternen Sinnen auszulegen 1). Das Zeit- alter der enthusiastischen Propheten lag also damals ab- geschlossen in der Vergangenheit. Eben jene damals auf- tauchende Litteratur der sibyllinisch-bakidischen Wahrsprüche, die ja unendlichen Anwachsens fähig war, hat dann freilich beigetragen, die Gestalten der Träger jener verschollenen Pro- phetengabe vollends im mythischen Nebel zu verflüchtigen. Immer höher schob sich hier die Reihe der Ereignisse hinauf, die sie vorausgesagt haben sollten, und immer mehr wich die, vor den frühesten vorausgesagten Ereignissen anzusetzende Lebenszeit der Propheten in urälteste Vergangenheit zurück 2). 1) Von dieser Art waren die χρησμολόγοι des fünften und vierten, auch schon des ausgehenden sechsten Jahrhunderts (denn Onomakritos gehört völlig in diese Reihe). S. Lobeck, Agl. p. 978 ff. und 332. Sehr selten hört man in diesen Zeiten noch von selbständig, im furor divinus, Wahrsagenden, wie von jenem Amphilytos aus Akarnanien, der dem Pisi- stratos, als er aus Eretria zurückkehrte vor der Schlacht ἐπὶ Παλληνίδι begegnete und ἐνϑεάζων weissagte (Herod. 1, 62; Athener heisst er bei [Plat.] Theag. 134 D — wo er neben Βάκις τε καὶ Σίβυλλα gestellt wird — und Clemens Al. Strom. I 333 C). So traten vereinzelt auch spät noch „Sibyllen“ auf (Phaennis, Athenaïs: s. Alexandre, Orac. Sibyll.1 II p. 21. 48). 2) Bestimmt von zwei Sibyllen, der Herophile aus Erythrae und der phrygischen Sibylle (die er mit der S. aus Marpessos oder Gergis [Lactant. 1, 6, 12] identificirte: s. Alexandre Orac. Sibyll. 2 p. 25. 32) scheint zuerst Heraklides Ponticus (s. Clemens Alex. Strom. I 323 C. D.) geredet zu haben (ihm folgt, doch so, dass er als Dritte die Sib. von Sardes hinzufügt, Philetas Ephes. beim Schol. Ar. Av. 962). Die phrygisch- trojanische Sibylle setzte Herakl. in die Zeit „des Solon und Cyrus“ (Lactant. a. O.); wann er die erythraeische blühen liess, wissen wir nicht. Vielleicht erst nach seiner Zeit traten χρησμοί der Herophile in die Oeffentlichkeit, in denen sie die Τρωϊκά voraussagte: aus diesen Versen Rohde, Seelencult. 23

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/369>, abgerufen am 22.11.2024.