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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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und Dienst des Gottes muss den Griechen früh bekannt und
auffallend geworden sein, sei es nun in thrakischen Landen
selbst, die sie, in ihre spätere Heimath wandernd, durchzogen
haben müssen und mit denen sie seit alter Zeit in vielfachem
Verkehr standen, sei es auf griechischem Boden, durch thra-
kische Stämme oder Haufen, denen in Urzeiten dauernde Sitze
in manchen Gegenden Mittelgriechenlands zugeschrieben wurden
in vereinzelten Sagen, deren ethnographische Voraussetzungen
die grossen Geschichtsschreiber des fünften und vierten Jahr-
hunderts als thatsächlich begründet nahmen 1).

Der Cult dieser thrakischen Gottheit, in allen Punkten
heftig abweichend von dem was wir etwa aus Homer als
griechischen Götterdienst kennen, dagegen aufs nächste ver-
wandt dem Culte, in welchem das, mit den Thrakern fast
identische Volk der Phrygier seine Bergmutter Kybele verehrte,
trug völlig orgiastischen Charakter. Die Feier ging auf Berg-
höhen vor sich, in dunkler Nacht, beim unsteten Licht der

aus Antonius Diogenes) und vielleicht "den in ein Bärenfell Gehüllten"
bedeutet (s. Fick, Spracheinh. d. Indog. Europas p. 418; Hehn, Culturpfl.2
p. 474). -- Gigon, ein Name des Dionysos (Et. M. 231, 28); vielleicht der
Name des Gottes in der ebendort erwähnten Stadt Gigonos und akra
Gigonis an der Westseite der thrak. Chalkidike. -- Unverständlich kurz
Etym. M. 186, 32: -- balia e diapoikilos. kai ton Dionuson Thrakes. -- Dualos
Dionusos para Paiosin. Hesych.
1) Jedenfalls sind aber unter den "Thrakern", die nach Thucydides,
Ephorus u. A. in Phokis, Böotien u. s. w. ehemals ansässig gewesen sein
sollen, eben Thraker zu verstehen, nicht jenes von den wirklich thraki-
schen Stämmen angeblich ganz verschiedene, unleidlich brave und muster-
hafte Phantasievolk der "Musenthraker", von denen nach K. O. Müller's
Vorgang Viele vieles zu sagen wissen. Das Alterthum weiss nur von
Einer Gattung der Thraker. Diese stehen in Homers Darstellungen von
den Griechen nicht so weit in der Cultur ab wie später, nach den Schil-
derungen bei Herodot und Xenophon. Dennoch ist es hier wie dort
dasselbe Volk, von dem die Rede ist. Sie scheinen im Laufe der Zeit
gesunken zu sein, richtiger wohl, sie haben die Fortschritte der Anderen
(auch ihrer nach Kleinasien gewanderten und dort durch semitische Ein-
flüsse höher gebildeten phrygischen Stammesgenossen) nicht mitgemacht
und sind so zurückgeblieben. Sie sind, ähnlich z. B. den Kelten, über
einen Zustand halber Civilisirung nie hinaus zu bringen gewesen.

und Dienst des Gottes muss den Griechen früh bekannt und
auffallend geworden sein, sei es nun in thrakischen Landen
selbst, die sie, in ihre spätere Heimath wandernd, durchzogen
haben müssen und mit denen sie seit alter Zeit in vielfachem
Verkehr standen, sei es auf griechischem Boden, durch thra-
kische Stämme oder Haufen, denen in Urzeiten dauernde Sitze
in manchen Gegenden Mittelgriechenlands zugeschrieben wurden
in vereinzelten Sagen, deren ethnographische Voraussetzungen
die grossen Geschichtsschreiber des fünften und vierten Jahr-
hunderts als thatsächlich begründet nahmen 1).

Der Cult dieser thrakischen Gottheit, in allen Punkten
heftig abweichend von dem was wir etwa aus Homer als
griechischen Götterdienst kennen, dagegen aufs nächste ver-
wandt dem Culte, in welchem das, mit den Thrakern fast
identische Volk der Phrygier seine Bergmutter Kybele verehrte,
trug völlig orgiastischen Charakter. Die Feier ging auf Berg-
höhen vor sich, in dunkler Nacht, beim unsteten Licht der

aus Antonius Diogenes) und vielleicht „den in ein Bärenfell Gehüllten“
bedeutet (s. Fick, Spracheinh. d. Indog. Europas p. 418; Hehn, Culturpfl.2
p. 474). — Γίγων, ein Name des Dionysos (Et. M. 231, 28); vielleicht der
Name des Gottes in der ebendort erwähnten Stadt Gigonos und ἄκρα
Γιγωνίς an der Westseite der thrak. Chalkidike. — Unverständlich kurz
Etym. M. 186, 32: — βαλιά η διαποίκιλος. καὶ τὸν Διόνυσον Θρᾷκες. — Δύαλος
Διόνυσος παρὰ Παίοσιν. Hesych.
1) Jedenfalls sind aber unter den „Thrakern“, die nach Thucydides,
Ephorus u. A. in Phokis, Böotien u. s. w. ehemals ansässig gewesen sein
sollen, eben Thraker zu verstehen, nicht jenes von den wirklich thraki-
schen Stämmen angeblich ganz verschiedene, unleidlich brave und muster-
hafte Phantasievolk der „Musenthraker“, von denen nach K. O. Müller’s
Vorgang Viele vieles zu sagen wissen. Das Alterthum weiss nur von
Einer Gattung der Thraker. Diese stehen in Homers Darstellungen von
den Griechen nicht so weit in der Cultur ab wie später, nach den Schil-
derungen bei Herodot und Xenophon. Dennoch ist es hier wie dort
dasselbe Volk, von dem die Rede ist. Sie scheinen im Laufe der Zeit
gesunken zu sein, richtiger wohl, sie haben die Fortschritte der Anderen
(auch ihrer nach Kleinasien gewanderten und dort durch semitische Ein-
flüsse höher gebildeten phrygischen Stammesgenossen) nicht mitgemacht
und sind so zurückgeblieben. Sie sind, ähnlich z. B. den Kelten, über
einen Zustand halber Civilisirung nie hinaus zu bringen gewesen.
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[301/0317] und Dienst des Gottes muss den Griechen früh bekannt und auffallend geworden sein, sei es nun in thrakischen Landen selbst, die sie, in ihre spätere Heimath wandernd, durchzogen haben müssen und mit denen sie seit alter Zeit in vielfachem Verkehr standen, sei es auf griechischem Boden, durch thra- kische Stämme oder Haufen, denen in Urzeiten dauernde Sitze in manchen Gegenden Mittelgriechenlands zugeschrieben wurden in vereinzelten Sagen, deren ethnographische Voraussetzungen die grossen Geschichtsschreiber des fünften und vierten Jahr- hunderts als thatsächlich begründet nahmen 1). Der Cult dieser thrakischen Gottheit, in allen Punkten heftig abweichend von dem was wir etwa aus Homer als griechischen Götterdienst kennen, dagegen aufs nächste ver- wandt dem Culte, in welchem das, mit den Thrakern fast identische Volk der Phrygier seine Bergmutter Kybele verehrte, trug völlig orgiastischen Charakter. Die Feier ging auf Berg- höhen vor sich, in dunkler Nacht, beim unsteten Licht der 2) 1) Jedenfalls sind aber unter den „Thrakern“, die nach Thucydides, Ephorus u. A. in Phokis, Böotien u. s. w. ehemals ansässig gewesen sein sollen, eben Thraker zu verstehen, nicht jenes von den wirklich thraki- schen Stämmen angeblich ganz verschiedene, unleidlich brave und muster- hafte Phantasievolk der „Musenthraker“, von denen nach K. O. Müller’s Vorgang Viele vieles zu sagen wissen. Das Alterthum weiss nur von Einer Gattung der Thraker. Diese stehen in Homers Darstellungen von den Griechen nicht so weit in der Cultur ab wie später, nach den Schil- derungen bei Herodot und Xenophon. Dennoch ist es hier wie dort dasselbe Volk, von dem die Rede ist. Sie scheinen im Laufe der Zeit gesunken zu sein, richtiger wohl, sie haben die Fortschritte der Anderen (auch ihrer nach Kleinasien gewanderten und dort durch semitische Ein- flüsse höher gebildeten phrygischen Stammesgenossen) nicht mitgemacht und sind so zurückgeblieben. Sie sind, ähnlich z. B. den Kelten, über einen Zustand halber Civilisirung nie hinaus zu bringen gewesen. 2) aus Antonius Diogenes) und vielleicht „den in ein Bärenfell Gehüllten“ bedeutet (s. Fick, Spracheinh. d. Indog. Europas p. 418; Hehn, Culturpfl.2 p. 474). — Γίγων, ein Name des Dionysos (Et. M. 231, 28); vielleicht der Name des Gottes in der ebendort erwähnten Stadt Gigonos und ἄκρα Γιγωνίς an der Westseite der thrak. Chalkidike. — Unverständlich kurz Etym. M. 186, 32: — βαλιά η διαποίκιλος. καὶ τὸν Διόνυσον Θρᾷκες. — Δύαλος Διόνυσος παρὰ Παίοσιν. Hesych.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/317>, abgerufen am 22.11.2024.