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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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stimmten Menschheit zu verschwinden. Es ist wichtig, gleich von
Anfang an sich klar zu machen, was, nach griechischer Vor-
stellungsweise, mit dem Satze, dass die Seele des Menschen
unsterblich sei, eigentlich behauptet wurde. Wer der Seele ewige
Dauer zusprach, der liess sie theilhaben an dem Vorrecht der
Götter, der ewig lebendigen. "Unsterblich" und "göttlich"
sind Wechselbegriffe; das wesentliche Prädicat des Gottes und
nur des Gottes ist eben die Unsterblichkeit. Ueberträgt man
dieses Prädicat auf die Seele des Menschen, so erklärt man
diese damit für einen Gott (theos, daimon) oder doch für ein
göttliches Wesen (theion). Die Vorstellungen der Unsterblich-
keit und der Gottnatur der Seele waren untrennbar von An-
fang an, und sie sind es in Wahrheit geblieben auch unter
den mannichfachen Umhüllungen und Umbildungen, welche
theologisch-philosophische Speculation dem Unsterblichkeits-
glauben gegeben hat.

Die Unsterblichkeit ist nicht eine für sich stehende Eigen-
schaft der Seele; wo sie unter Griechen geglaubt wird, folgt
sie einfach aus dem Glauben an die göttliche Natur der Seele.
Ein Glaube, der sich auf göttliche Naturen bezieht, kann in
seinen Anfängen nur ein religiöser gewesen sein. Und so tritt
uns in der That die erste Spur der Vorstellung von unsterb-
lich-göttlichem Leben der Menschenseele als ein eigenthümlich
eingekleideter religiöser Glaubenssatz entgegen. Es war nicht
der Seelencult der Familien und Städte, nicht die öffentliche und
allgemeine Religion des Staates, die diesen Glauben erzeugten,
wie nicht sie es waren, die ihn nährten und lebendig erhielten.
Er taucht auf inmitten einer durch die Religion des Staates nicht
befriedigten, nach eigenen Satzungen das Leben religiös gestalten-
den Secte, die sich im Culte des Dionysos vereinigte.

Es gilt zu begreifen und begreiflich zu machen, wie in der
Verehrung gerade dieses Gottes, der im griechischen Olymp
erst spät eine Stelle fand, die Keime zur Entwicklung des
Glaubens an Göttlichkeit und Unvergänglichkeit der mensch-
lichen Seele gelegen waren.

stimmten Menschheit zu verschwinden. Es ist wichtig, gleich von
Anfang an sich klar zu machen, was, nach griechischer Vor-
stellungsweise, mit dem Satze, dass die Seele des Menschen
unsterblich sei, eigentlich behauptet wurde. Wer der Seele ewige
Dauer zusprach, der liess sie theilhaben an dem Vorrecht der
Götter, der ewig lebendigen. „Unsterblich“ und „göttlich“
sind Wechselbegriffe; das wesentliche Prädicat des Gottes und
nur des Gottes ist eben die Unsterblichkeit. Ueberträgt man
dieses Prädicat auf die Seele des Menschen, so erklärt man
diese damit für einen Gott (ϑεός, δαίμων) oder doch für ein
göttliches Wesen (ϑεῖον). Die Vorstellungen der Unsterblich-
keit und der Gottnatur der Seele waren untrennbar von An-
fang an, und sie sind es in Wahrheit geblieben auch unter
den mannichfachen Umhüllungen und Umbildungen, welche
theologisch-philosophische Speculation dem Unsterblichkeits-
glauben gegeben hat.

Die Unsterblichkeit ist nicht eine für sich stehende Eigen-
schaft der Seele; wo sie unter Griechen geglaubt wird, folgt
sie einfach aus dem Glauben an die göttliche Natur der Seele.
Ein Glaube, der sich auf göttliche Naturen bezieht, kann in
seinen Anfängen nur ein religiöser gewesen sein. Und so tritt
uns in der That die erste Spur der Vorstellung von unsterb-
lich-göttlichem Leben der Menschenseele als ein eigenthümlich
eingekleideter religiöser Glaubenssatz entgegen. Es war nicht
der Seelencult der Familien und Städte, nicht die öffentliche und
allgemeine Religion des Staates, die diesen Glauben erzeugten,
wie nicht sie es waren, die ihn nährten und lebendig erhielten.
Er taucht auf inmitten einer durch die Religion des Staates nicht
befriedigten, nach eigenen Satzungen das Leben religiös gestalten-
den Secte, die sich im Culte des Dionysos vereinigte.

Es gilt zu begreifen und begreiflich zu machen, wie in der
Verehrung gerade dieses Gottes, der im griechischen Olymp
erst spät eine Stelle fand, die Keime zur Entwicklung des
Glaubens an Göttlichkeit und Unvergänglichkeit der mensch-
lichen Seele gelegen waren.

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[296/0312] stimmten Menschheit zu verschwinden. Es ist wichtig, gleich von Anfang an sich klar zu machen, was, nach griechischer Vor- stellungsweise, mit dem Satze, dass die Seele des Menschen unsterblich sei, eigentlich behauptet wurde. Wer der Seele ewige Dauer zusprach, der liess sie theilhaben an dem Vorrecht der Götter, der ewig lebendigen. „Unsterblich“ und „göttlich“ sind Wechselbegriffe; das wesentliche Prädicat des Gottes und nur des Gottes ist eben die Unsterblichkeit. Ueberträgt man dieses Prädicat auf die Seele des Menschen, so erklärt man diese damit für einen Gott (ϑεός, δαίμων) oder doch für ein göttliches Wesen (ϑεῖον). Die Vorstellungen der Unsterblich- keit und der Gottnatur der Seele waren untrennbar von An- fang an, und sie sind es in Wahrheit geblieben auch unter den mannichfachen Umhüllungen und Umbildungen, welche theologisch-philosophische Speculation dem Unsterblichkeits- glauben gegeben hat. Die Unsterblichkeit ist nicht eine für sich stehende Eigen- schaft der Seele; wo sie unter Griechen geglaubt wird, folgt sie einfach aus dem Glauben an die göttliche Natur der Seele. Ein Glaube, der sich auf göttliche Naturen bezieht, kann in seinen Anfängen nur ein religiöser gewesen sein. Und so tritt uns in der That die erste Spur der Vorstellung von unsterb- lich-göttlichem Leben der Menschenseele als ein eigenthümlich eingekleideter religiöser Glaubenssatz entgegen. Es war nicht der Seelencult der Familien und Städte, nicht die öffentliche und allgemeine Religion des Staates, die diesen Glauben erzeugten, wie nicht sie es waren, die ihn nährten und lebendig erhielten. Er taucht auf inmitten einer durch die Religion des Staates nicht befriedigten, nach eigenen Satzungen das Leben religiös gestalten- den Secte, die sich im Culte des Dionysos vereinigte. Es gilt zu begreifen und begreiflich zu machen, wie in der Verehrung gerade dieses Gottes, der im griechischen Olymp erst spät eine Stelle fand, die Keime zur Entwicklung des Glaubens an Göttlichkeit und Unvergänglichkeit der mensch- lichen Seele gelegen waren.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/312>, abgerufen am 22.11.2024.