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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem
sie die Klägerinnen waren 1). In diesem athenischen Dienst
hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch
nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes
schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver-
allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art,
bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie
sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der
sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf-
beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher
sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an
dem, der eben den erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls
ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn
den Vater oder die Mutter erschlagen, -- wer soll da die
Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge-
tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder
selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung
werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die
aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An
seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend,
vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus 2); er ist ihr verfallen
als Opferthier 3). Und noch im geordneten Rechtsstaate sind
es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen

1) Die Erinyen sind die Anklägerinnen des Orestes nicht nur in der
Dichtung des Aeschylus (und darnach bei Euripides, Iph. Taur. 940 ff.),
sondern auch nach der, aus anderen Quellen geflossenen Darstellung
(in der die 12 Götter als Richter gelten) bei Demosthenes, Aristocrat. 66
(vgl. 74, und Dinarch. adv. Demosth. 87).
2) Es ist Art der Erinyen apo zontos Rophein eruthron ek meleon pe-
lanon Aesch. Eum. 264 f., vgl. 183 f.; 302; 305. Sie gleichen hierin völlig
den "Vampyrn", von denen Sagen namentlich slavischer Völker erzählen,
den Tii der Polynesier u. s. w. Aber dies sind aus dem Grabe wieder-
kehrende, blutsaugende Seelen.
3) Die Erinyen zu Orestes: emoi trapheis te kai kathieromenos. kai zon
me daiseis oude pros bomo sphageis. Aesch. Eum. 304 f. Der Mutter-
mörder ist divis parentum (d. h. ihren Manes) sacer, ihr Opferthier (thuma
katakhthoniou Dios Dionys. ant. 2, 10, 3), auch nach altgriechischem Glauben.

wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem
sie die Klägerinnen waren 1). In diesem athenischen Dienst
hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch
nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes
schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver-
allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art,
bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie
sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der
sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf-
beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher
sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an
dem, der eben den erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls
ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn
den Vater oder die Mutter erschlagen, — wer soll da die
Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge-
tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder
selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung
werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die
aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An
seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend,
vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus 2); er ist ihr verfallen
als Opferthier 3). Und noch im geordneten Rechtsstaate sind
es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen

1) Die Erinyen sind die Anklägerinnen des Orestes nicht nur in der
Dichtung des Aeschylus (und darnach bei Euripides, Iph. Taur. 940 ff.),
sondern auch nach der, aus anderen Quellen geflossenen Darstellung
(in der die 12 Götter als Richter gelten) bei Demosthenes, Aristocrat. 66
(vgl. 74, und Dinarch. adv. Demosth. 87).
2) Es ist Art der Erinyen ἀπὸ ζῶντος ῥοφεῖν ἐρυϑρὸν ἐκ μελέων πέ-
λανον Aesch. Eum. 264 f., vgl. 183 f.; 302; 305. Sie gleichen hierin völlig
den „Vampyrn“, von denen Sagen namentlich slavischer Völker erzählen,
den Tii der Polynesier u. s. w. Aber dies sind aus dem Grabe wieder-
kehrende, blutsaugende Seelen.
3) Die Erinyen zu Orestes: ἐμοὶ τραφείς τε καὶ καϑιερωμένος. καὶ ζῶν
με δαίσεις οὐδὲ πρὸς βωμῷ σφαγείς. Aesch. Eum. 304 f. Der Mutter-
mörder ist divis parentum (d. h. ihren Manes) sacer, ihr Opferthier (ϑῦμα
καταχϑονίου Διός Dionys. ant. 2, 10, 3), auch nach altgriechischem Glauben.
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[246/0262] wie einst in dem vorbildlichen Process des Orestes, in dem sie die Klägerinnen waren 1). In diesem athenischen Dienst hatten die Erinyen ihre wahre und ursprüngliche Natur noch nicht so weit verloren, dass sie etwa zu Hüterinnen des Rechtes schlechtweg geworden wären, als welche sie, in blassester Ver- allgemeinerung ihrer von Anfang viel enger bestimmten Art, bei Dichtern und Philosophen bisweilen dargestellt werden. Sie sind furchtbare Dämonen, in der Erdtiefe hausend, aus der sie durch die Flüche und Verwünschungen derjenigen herauf- beschworen werden, denen kein irdischer Rächer lebt. Daher sie vor Allem Mordthaten innerhalb der Familie rächen an dem, der eben den erschlagen hat, dessen Bluträcher er, falls ein anderer ihn erlegt hätte, hätte sein müssen. Hat der Sohn den Vater oder die Mutter erschlagen, — wer soll da die Blutrache vollstrecken, die dem nächsten Verwandten des Ge- tödteten obliegt? Dieser nächste Verwandte ist der Mörder selbst. Dass dennoch dem Gemordeten seine Genugthuung werde, darüber wacht die Erinys des Vaters, der Mutter, die aus dem Seelenreich hervorbricht, den Mörder zu fangen. An seine Sohlen heftet sie sich, Tag und Nacht ihn ängstigend, vampyrgleich saugt sie ihm das Blut aus 2); er ist ihr verfallen als Opferthier 3). Und noch im geordneten Rechtsstaate sind es die Erinyen, die vor den Blutgerichten Rache heischen gegen 1) Die Erinyen sind die Anklägerinnen des Orestes nicht nur in der Dichtung des Aeschylus (und darnach bei Euripides, Iph. Taur. 940 ff.), sondern auch nach der, aus anderen Quellen geflossenen Darstellung (in der die 12 Götter als Richter gelten) bei Demosthenes, Aristocrat. 66 (vgl. 74, und Dinarch. adv. Demosth. 87). 2) Es ist Art der Erinyen ἀπὸ ζῶντος ῥοφεῖν ἐρυϑρὸν ἐκ μελέων πέ- λανον Aesch. Eum. 264 f., vgl. 183 f.; 302; 305. Sie gleichen hierin völlig den „Vampyrn“, von denen Sagen namentlich slavischer Völker erzählen, den Tii der Polynesier u. s. w. Aber dies sind aus dem Grabe wieder- kehrende, blutsaugende Seelen. 3) Die Erinyen zu Orestes: ἐμοὶ τραφείς τε καὶ καϑιερωμένος. καὶ ζῶν με δαίσεις οὐδὲ πρὸς βωμῷ σφαγείς. Aesch. Eum. 304 f. Der Mutter- mörder ist divis parentum (d. h. ihren Manes) sacer, ihr Opferthier (ϑῦμα καταχϑονίου Διός Dionys. ant. 2, 10, 3), auch nach altgriechischem Glauben.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/262>, abgerufen am 09.11.2024.