lassen bleibt, gewähren können. Ohne Zweifel haben sie die Verzeihung zugleich im Namen des Todten, dessen Recht sie vertreten, auszusprechen: wie denn der tödtlich Getroffene vor seinem Tode dem Thäter verzeihen konnte, selbst bei über- legtem Mord, und damit den Verwandten die Pflicht zur An- klage erlassen war 1). So sehr hatte man selbst im geordneten Rechtsstaat bei Mordprocessen einzig und allein das Rache- gefühl der beleidigten Seele im Auge, und gar nicht die, das Recht verletzende That des Mörders als solche. Wo kein Racheverlangen des Ermordeten zu stillen ist, bleibt der Mörder straffrei; wird er bestraft, so geschieht dies, um der Seele des Getödteten Genugthuung zu gewähren. Nicht mehr als Opfer wird er ihr geschlachtet, aber wenn die Anverwandten des Gemordeten von ihm die Rache in den staatlich vorgeschriebenen Grenzen eintreiben, so ist auch dies ein Theil des dem Todten gewidmeten Seelencultes.
2.
Der Staat weist wohl die von den Verwandten des Ge- tödteten geforderte Blutrache in gesetzliche, den Ordnungen des Gemeinwohles nicht zuwiderlaufende Bahnen, aber er will keines- wegs die Grundgedanken der alten Familienrache austilgen. Eine Neuerstarkung der, mit dem Seelencult eng verbundenen Vorstellungen von der gerechten Racheforderung des gewalt- sam um das Leben Gebrachten erkennt auch der Staat an, indem er jene, in homerischer Zeit übliche Abkaufung der Blutschuld durch eine den Verwandten des Todten zu ent- richtende Busse verbietet 2). Er hebt den religiösen Charakter
1) Demosth. 37, 59. S. Philippi a. O. p. 144 ff. -- Vgl. Eurip. Hippol. 1429 f.; 1436; 1443 ff.
2) Ein solches Verbot, poine von einem Mörder zu nehmen, spricht das Gesetz bei Demosth. Aristocrat. 28 aus: tous d androphonous exeinai apokteinein -- -- lumainesthai de me, mede apoinan (vgl. § 33: to de med apoinan ; me khremata prattein, ta gar apoina khremata onomazon oi palaioi). Dass dennoch Todtschlag mit Geld abgekauft werden durfte, schlossen Meier u. A. ganz mit Unrecht aus dem bei Pseudodemosth. g. Theocrin. 29
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lassen bleibt, gewähren können. Ohne Zweifel haben sie die Verzeihung zugleich im Namen des Todten, dessen Recht sie vertreten, auszusprechen: wie denn der tödtlich Getroffene vor seinem Tode dem Thäter verzeihen konnte, selbst bei über- legtem Mord, und damit den Verwandten die Pflicht zur An- klage erlassen war 1). So sehr hatte man selbst im geordneten Rechtsstaat bei Mordprocessen einzig und allein das Rache- gefühl der beleidigten Seele im Auge, und gar nicht die, das Recht verletzende That des Mörders als solche. Wo kein Racheverlangen des Ermordeten zu stillen ist, bleibt der Mörder straffrei; wird er bestraft, so geschieht dies, um der Seele des Getödteten Genugthuung zu gewähren. Nicht mehr als Opfer wird er ihr geschlachtet, aber wenn die Anverwandten des Gemordeten von ihm die Rache in den staatlich vorgeschriebenen Grenzen eintreiben, so ist auch dies ein Theil des dem Todten gewidmeten Seelencultes.
2.
Der Staat weist wohl die von den Verwandten des Ge- tödteten geforderte Blutrache in gesetzliche, den Ordnungen des Gemeinwohles nicht zuwiderlaufende Bahnen, aber er will keines- wegs die Grundgedanken der alten Familienrache austilgen. Eine Neuerstarkung der, mit dem Seelencult eng verbundenen Vorstellungen von der gerechten Racheforderung des gewalt- sam um das Leben Gebrachten erkennt auch der Staat an, indem er jene, in homerischer Zeit übliche Abkaufung der Blutschuld durch eine den Verwandten des Todten zu ent- richtende Busse verbietet 2). Er hebt den religiösen Charakter
1) Demosth. 37, 59. S. Philippi a. O. p. 144 ff. — Vgl. Eurip. Hippol. 1429 f.; 1436; 1443 ff.
2) Ein solches Verbot, ποινή von einem Mörder zu nehmen, spricht das Gesetz bei Demosth. Aristocrat. 28 aus: τοὺς δ̕ ἀνδροφόνους ἐξεῖναι ἀποκτείνειν — — λυμαίνεσϑαι δὲ μή, μηδὲ ἀποινᾶν (vgl. § 33: τὸ δὲ μηδ̕ ἀποινᾶν · μὴ χρήματα πράττειν, τὰ γὰρ ἄποινα χρήματα ὠνόμαζον οἱ παλαιοί). Dass dennoch Todtschlag mit Geld abgekauft werden durfte, schlossen Meier u. A. ganz mit Unrecht aus dem bei Pseudodemosth. g. Theocrin. 29
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lassen bleibt, gewähren können. Ohne Zweifel haben sie die
Verzeihung zugleich im Namen des Todten, dessen Recht sie
vertreten, auszusprechen: wie denn der tödtlich Getroffene vor
seinem Tode dem Thäter verzeihen konnte, selbst bei über-
legtem Mord, und damit den Verwandten die Pflicht zur An-
klage erlassen war 1). So sehr hatte man selbst im geordneten
Rechtsstaat bei Mordprocessen einzig und allein das Rache-
gefühl der beleidigten Seele im Auge, und gar nicht die, das
Recht verletzende That des Mörders als solche. Wo kein
Racheverlangen des Ermordeten zu stillen ist, bleibt der Mörder
straffrei; wird er bestraft, so geschieht dies, um der Seele des
Getödteten Genugthuung zu gewähren. Nicht mehr als Opfer
wird er ihr geschlachtet, aber wenn die Anverwandten des
Gemordeten von ihm die Rache in den staatlich vorgeschriebenen
Grenzen eintreiben, so ist auch dies ein Theil des dem Todten
gewidmeten Seelencultes.
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Der Staat weist wohl die von den Verwandten des Ge-
tödteten geforderte Blutrache in gesetzliche, den Ordnungen des
Gemeinwohles nicht zuwiderlaufende Bahnen, aber er will keines-
wegs die Grundgedanken der alten Familienrache austilgen.
Eine Neuerstarkung der, mit dem Seelencult eng verbundenen
Vorstellungen von der gerechten Racheforderung des gewalt-
sam um das Leben Gebrachten erkennt auch der Staat an,
indem er jene, in homerischer Zeit übliche Abkaufung der
Blutschuld durch eine den Verwandten des Todten zu ent-
richtende Busse verbietet 2). Er hebt den religiösen Charakter
1) Demosth. 37, 59. S. Philippi a. O. p. 144 ff. — Vgl. Eurip.
Hippol. 1429 f.; 1436; 1443 ff.
2) Ein solches Verbot, ποινή von einem Mörder zu nehmen, spricht
das Gesetz bei Demosth. Aristocrat. 28 aus: τοὺς δ̕ ἀνδροφόνους ἐξεῖναι
ἀποκτείνειν — — λυμαίνεσϑαι δὲ μή, μηδὲ ἀποινᾶν (vgl. § 33: τὸ δὲ μηδ̕
ἀποινᾶν · μὴ χρήματα πράττειν, τὰ γὰρ ἄποινα χρήματα ὠνόμαζον οἱ παλαιοί).
Dass dennoch Todtschlag mit Geld abgekauft werden durfte, schlossen
Meier u. A. ganz mit Unrecht aus dem bei Pseudodemosth. g. Theocrin. 29
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/259>, abgerufen am 24.11.2024.
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