keine Wirkung der Psychen auf das Reich des Sichtbaren, daher auch kaum irgend einen Cult derselben. Wie sollten auch die Seelen (wie ich nunmehr wohl, ohne Missverständniss zu befürchten, sagen darf) wirken? Sie sind alle versammelt im Reiche des Aides, fern von den lebenden Menschen, Okeanos, Acheron trennt sie von ihnen, der Gott selbst, der unerbittliche, unbezwingliche Thorhüter, hält sie fest. Kaum dass einmal ein Märchenheld, wie Odysseus, lebend bis an den Eingang des grausigen Reiches gelangt; sie selbst, die Seelen, sobald sie den Fluss überschritten haben, kommen nie mehr zurück: so versichert die Seele des Patroklos dem Freunde. Wie gelangen sie dahin? Die Voraussetzung scheint zu sein, dass die Seele beim Verlassen des Leibes, wiewohl ungern, "ihr Geschick bejammernd", doch ohne alle Umstände zum Hades entschwebt, nach Vernichtung des Leibes durch Feuer für immer in den Tiefen des Erebos verschwindet. Ein später Dichter erst, der der Odyssee ihren letzten Abschluss gab, bedurfte des Hermes, des "Seelengeleiters". Ob das eine Erfindung jenes Dichters oder (was viel wahrscheinlicher ist) nur eine Entlehnung aus altem Volksglauben einer einzelnen Gegend Griechenlands ist: gegenüber Homers festgeschlos- senem Vorstellungskreise ist es eine Neuerung, und eine be- deutungsvolle. Schon beginnt man, scheint es, an der Noth- wendigkeit des Hinabschwebens aller Seelen in das Haus der Unsichtbarkeit zu zweifeln, weist ihnen einen göttlichen Geleitsmann an, der sie durch magisch zwingenden "Abruf" (Od. 24, 1) und die Kraft seines Zauberstabes ihm zu folgen nöthigt 1).
1) Eine eigenthümliche Vorstellung schimmert durch in einer Wen- dung wie Od. 14, 207: all etoi ton Keres eban thanatoio pherousai eis Aidao domous. Vgl. Il. 2, 302. Die Keren bringen sonst dem Menschen den Tod; hier geleiten sie (wie nach späterer Dichtung Thanatos selbst) den Todten in das Reich des Hades. Sie sind Hadesdämonen, nach ur- sprünglicher Bedeutung selbst dem Leben entrissene "Seelen" (s. unten); es ist eine wohlverständliche Vorstellung, dass solche Seelengeister, herumschwebend, ausfahrende Seelen eben gestorbener Menschen mit sich
keine Wirkung der Psychen auf das Reich des Sichtbaren, daher auch kaum irgend einen Cult derselben. Wie sollten auch die Seelen (wie ich nunmehr wohl, ohne Missverständniss zu befürchten, sagen darf) wirken? Sie sind alle versammelt im Reiche des Aïdes, fern von den lebenden Menschen, Okeanos, Acheron trennt sie von ihnen, der Gott selbst, der unerbittliche, unbezwingliche Thorhüter, hält sie fest. Kaum dass einmal ein Märchenheld, wie Odysseus, lebend bis an den Eingang des grausigen Reiches gelangt; sie selbst, die Seelen, sobald sie den Fluss überschritten haben, kommen nie mehr zurück: so versichert die Seele des Patroklos dem Freunde. Wie gelangen sie dahin? Die Voraussetzung scheint zu sein, dass die Seele beim Verlassen des Leibes, wiewohl ungern, „ihr Geschick bejammernd“, doch ohne alle Umstände zum Hades entschwebt, nach Vernichtung des Leibes durch Feuer für immer in den Tiefen des Erebos verschwindet. Ein später Dichter erst, der der Odyssee ihren letzten Abschluss gab, bedurfte des Hermes, des „Seelengeleiters“. Ob das eine Erfindung jenes Dichters oder (was viel wahrscheinlicher ist) nur eine Entlehnung aus altem Volksglauben einer einzelnen Gegend Griechenlands ist: gegenüber Homers festgeschlos- senem Vorstellungskreise ist es eine Neuerung, und eine be- deutungsvolle. Schon beginnt man, scheint es, an der Noth- wendigkeit des Hinabschwebens aller Seelen in das Haus der Unsichtbarkeit zu zweifeln, weist ihnen einen göttlichen Geleitsmann an, der sie durch magisch zwingenden „Abruf“ (Od. 24, 1) und die Kraft seines Zauberstabes ihm zu folgen nöthigt 1).
1) Eine eigenthümliche Vorstellung schimmert durch in einer Wen- dung wie Od. 14, 207: ἀλλ̕ ἤτοι τὸν Κῆρες ἔβαν ϑανάτοιο φέρουσαι εἰς Ἀΐδαο δόμους. Vgl. Il. 2, 302. Die Keren bringen sonst dem Menschen den Tod; hier geleiten sie (wie nach späterer Dichtung Thanatos selbst) den Todten in das Reich des Hades. Sie sind Hadesdämonen, nach ur- sprünglicher Bedeutung selbst dem Leben entrissene „Seelen“ (s. unten); es ist eine wohlverständliche Vorstellung, dass solche Seelengeister, herumschwebend, ausfahrende Seelen eben gestorbener Menschen mit sich
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daher auch kaum irgend einen Cult derselben. Wie sollten
auch die Seelen (wie ich nunmehr wohl, ohne Missverständniss
zu befürchten, sagen darf) wirken? Sie sind alle versammelt
im Reiche des Aïdes, fern von den lebenden Menschen, Okeanos,
Acheron trennt sie von ihnen, der Gott selbst, der unerbittliche,
unbezwingliche Thorhüter, hält sie fest. Kaum dass einmal
ein Märchenheld, wie Odysseus, lebend bis an den Eingang
des grausigen Reiches gelangt; sie selbst, die Seelen, sobald
sie den Fluss überschritten haben, kommen nie mehr zurück:
so versichert die Seele des Patroklos dem Freunde. Wie
gelangen sie dahin? Die Voraussetzung scheint zu sein, dass
die Seele beim Verlassen des Leibes, wiewohl ungern, „ihr
Geschick bejammernd“, doch ohne alle Umstände zum Hades
entschwebt, nach Vernichtung des Leibes durch Feuer für
immer in den Tiefen des Erebos verschwindet. Ein später
Dichter erst, der der Odyssee ihren letzten Abschluss gab,
bedurfte des Hermes, des „Seelengeleiters“. Ob das eine
Erfindung jenes Dichters oder (was viel wahrscheinlicher ist)
nur eine Entlehnung aus altem Volksglauben einer einzelnen
Gegend Griechenlands ist: gegenüber Homers festgeschlos-
senem Vorstellungskreise ist es eine Neuerung, und eine be-
deutungsvolle. Schon beginnt man, scheint es, an der Noth-
wendigkeit des Hinabschwebens aller Seelen in das Haus
der Unsichtbarkeit zu zweifeln, weist ihnen einen göttlichen
Geleitsmann an, der sie durch magisch zwingenden „Abruf“
(Od. 24, 1) und die Kraft seines Zauberstabes ihm zu folgen
nöthigt 1).
1) Eine eigenthümliche Vorstellung schimmert durch in einer Wen-
dung wie Od. 14, 207: ἀλλ̕ ἤτοι τὸν Κῆρες ἔβαν ϑανάτοιο φέρουσαι εἰς
Ἀΐδαο δόμους. Vgl. Il. 2, 302. Die Keren bringen sonst dem Menschen
den Tod; hier geleiten sie (wie nach späterer Dichtung Thanatos selbst)
den Todten in das Reich des Hades. Sie sind Hadesdämonen, nach ur-
sprünglicher Bedeutung selbst dem Leben entrissene „Seelen“ (s. unten);
es ist eine wohlverständliche Vorstellung, dass solche Seelengeister,
herumschwebend, ausfahrende Seelen eben gestorbener Menschen mit sich
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/25>, abgerufen am 24.11.2024.
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