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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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oben; das Regiment der Städte kommt in's Wanken, die alten
Königsherrschaften werden abgelöst durch Aristokratie, Tyrannis,
Volksherrschaft; in friedlichen und (namentlich im Osten) feind-
lichen Berührungen tritt den Griechen fremdes Volksthum, auf
allen Stufen der Culturentwicklung stehend, näher als bisher
und übt mannichfachen Einfluss.

Inmitten dieser grossen Bewegung mussten auch dem
geistigen Leben neue Triebe zuwachsen. Dass man in der
That begann, von dem Herkömmlichen, der Ueberlieferung
der, in dem Abbild der homerischen Gedichte scheinbar so
fest auf sich selbst beruhenden alten Cultur sich abzulösen,
zeigt sich am deutlichsten eben auf dem Gebiete der Poesie.
Die Dichtung befreit sich von der Alleinherrschaft der epischen
Form. Sie lässt ab von dem fest geregelten Rhythmus des
epischen Verses; wie sie damit zugleich den gegebenen Vorrath
geprägter Worte, Formeln und Bilder aufgiebt, so verändert
und erweitert sich ihr nothwendig auch der Kreis der An-
schauungen. Der Dichter wendet nicht mehr den Blick ab von
der eigenen Zeit und der eigenen Person. Er selbst tritt in
den Mittelpunkt seiner Dichtung, und für den Ausdruck der
Schwingungen des eigenen Gemüthes findet er sich den eigen-
sten Rhythmus, im engen Bunde mit der Musik, die erst in
dieser Zeit ein wichtiges und selbständiges Element griechischen
Lebens wird. Es ist, als entdeckten die Griechen nun erst den
vollen Umfang ihrer Fähigkeiten, und wagten sich ihrer frei
zu bedienen. Die Hand gewinnt im Laufe der Jahrhunderte
immer voller die Macht, in jeder Art der Plastik jene Welt
der Schönheit aus der Phantasie in die Sichtbarkeit überzu-
führen, aus deren Trümmern noch uns sinnfälliger und ohne
vermittelnde Reflexion deutlicher als aus irgend welchen literari-
schen Leistungen das ewig Gültige griechischer Kunst ver-
ständlich wird.

Die Religion konnte nicht, allein unberührt von dem
allgemeinen Umschwung, im alten Zustande verharren. Noch
mehr freilich als auf anderen Gebieten ist uns hier das Innere

oben; das Regiment der Städte kommt in’s Wanken, die alten
Königsherrschaften werden abgelöst durch Aristokratie, Tyrannis,
Volksherrschaft; in friedlichen und (namentlich im Osten) feind-
lichen Berührungen tritt den Griechen fremdes Volksthum, auf
allen Stufen der Culturentwicklung stehend, näher als bisher
und übt mannichfachen Einfluss.

Inmitten dieser grossen Bewegung mussten auch dem
geistigen Leben neue Triebe zuwachsen. Dass man in der
That begann, von dem Herkömmlichen, der Ueberlieferung
der, in dem Abbild der homerischen Gedichte scheinbar so
fest auf sich selbst beruhenden alten Cultur sich abzulösen,
zeigt sich am deutlichsten eben auf dem Gebiete der Poesie.
Die Dichtung befreit sich von der Alleinherrschaft der epischen
Form. Sie lässt ab von dem fest geregelten Rhythmus des
epischen Verses; wie sie damit zugleich den gegebenen Vorrath
geprägter Worte, Formeln und Bilder aufgiebt, so verändert
und erweitert sich ihr nothwendig auch der Kreis der An-
schauungen. Der Dichter wendet nicht mehr den Blick ab von
der eigenen Zeit und der eigenen Person. Er selbst tritt in
den Mittelpunkt seiner Dichtung, und für den Ausdruck der
Schwingungen des eigenen Gemüthes findet er sich den eigen-
sten Rhythmus, im engen Bunde mit der Musik, die erst in
dieser Zeit ein wichtiges und selbständiges Element griechischen
Lebens wird. Es ist, als entdeckten die Griechen nun erst den
vollen Umfang ihrer Fähigkeiten, und wagten sich ihrer frei
zu bedienen. Die Hand gewinnt im Laufe der Jahrhunderte
immer voller die Macht, in jeder Art der Plastik jene Welt
der Schönheit aus der Phantasie in die Sichtbarkeit überzu-
führen, aus deren Trümmern noch uns sinnfälliger und ohne
vermittelnde Reflexion deutlicher als aus irgend welchen literari-
schen Leistungen das ewig Gültige griechischer Kunst ver-
ständlich wird.

Die Religion konnte nicht, allein unberührt von dem
allgemeinen Umschwung, im alten Zustande verharren. Noch
mehr freilich als auf anderen Gebieten ist uns hier das Innere

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[188/0204] oben; das Regiment der Städte kommt in’s Wanken, die alten Königsherrschaften werden abgelöst durch Aristokratie, Tyrannis, Volksherrschaft; in friedlichen und (namentlich im Osten) feind- lichen Berührungen tritt den Griechen fremdes Volksthum, auf allen Stufen der Culturentwicklung stehend, näher als bisher und übt mannichfachen Einfluss. Inmitten dieser grossen Bewegung mussten auch dem geistigen Leben neue Triebe zuwachsen. Dass man in der That begann, von dem Herkömmlichen, der Ueberlieferung der, in dem Abbild der homerischen Gedichte scheinbar so fest auf sich selbst beruhenden alten Cultur sich abzulösen, zeigt sich am deutlichsten eben auf dem Gebiete der Poesie. Die Dichtung befreit sich von der Alleinherrschaft der epischen Form. Sie lässt ab von dem fest geregelten Rhythmus des epischen Verses; wie sie damit zugleich den gegebenen Vorrath geprägter Worte, Formeln und Bilder aufgiebt, so verändert und erweitert sich ihr nothwendig auch der Kreis der An- schauungen. Der Dichter wendet nicht mehr den Blick ab von der eigenen Zeit und der eigenen Person. Er selbst tritt in den Mittelpunkt seiner Dichtung, und für den Ausdruck der Schwingungen des eigenen Gemüthes findet er sich den eigen- sten Rhythmus, im engen Bunde mit der Musik, die erst in dieser Zeit ein wichtiges und selbständiges Element griechischen Lebens wird. Es ist, als entdeckten die Griechen nun erst den vollen Umfang ihrer Fähigkeiten, und wagten sich ihrer frei zu bedienen. Die Hand gewinnt im Laufe der Jahrhunderte immer voller die Macht, in jeder Art der Plastik jene Welt der Schönheit aus der Phantasie in die Sichtbarkeit überzu- führen, aus deren Trümmern noch uns sinnfälliger und ohne vermittelnde Reflexion deutlicher als aus irgend welchen literari- schen Leistungen das ewig Gültige griechischer Kunst ver- ständlich wird. Die Religion konnte nicht, allein unberührt von dem allgemeinen Umschwung, im alten Zustande verharren. Noch mehr freilich als auf anderen Gebieten ist uns hier das Innere

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/204>, abgerufen am 23.11.2024.