Die griechische Bildung tritt uns in den homerischen Ge- dichten so allseitig entwickelt und in sich gerundet entgegen, dass, wer keine weiter reichende Kunde hätte, meinen könnte, hier sei die unter den gegebenen Bedingungen des eigenen Volkswesens und der äusseren Verhältnisse den Griechen er- reichbare Höhe eigenthümlicher Cultur endgültig erreicht. In Wahrheit stehen die homerischen Dichtungen auf der Grenz- scheide einer älteren, zu vollkommener Reife gelangten Ent- wickelung und einer neuen, vielfach nach anderem Maasse be- stimmten Ordnung der Dinge. Sie selbst spiegeln in einem idealen Bilde die Vergangenheit ab, die im Begriff stand, Abschied zu nehmen. Die tiefe Bewegung der darnach folgen- den Zeiten können wir wohl an ihren endlichen Ergebnissen ermessen, die in ihr wirksamen Kräfte an einzelnen Symptomen errathen, in der Hauptsache aber gestattet die trümmerhafte Ueberlieferung aus dieser Zeit der Umwandlungen uns kaum mehr als das Vorhandensein aller Bedingungen einer gründ- lichen Umgestaltung des griechischen Lebens deutlich zu er- kennen. Wir sehen, wie bis dahin mehr zurückstehende griechische Stämme in den Vordergrund der Geschichte treten, auf den Trümmern des Alten neue Reiche, nach dem Rechte der Eroberung gestaltet, errichten, ihre besondere Art der Lebensstimmung zur Geltung bringen; wie in weit verbreiteten Colonien das Griechenthum sich ausdehnt, in den Colonien, wie es zu geschehen pflegt, den Stufengang der Culturentwicke- lung in schnellerer Bewegung durchmisst. Handel und Gewerb- thätigkeit blühen auf, gesteigerte Bedürfnisse hervorrufend und befriedigend; neue Schichten der Bevölkerung dringen nach
Der Seelencult.
Die griechische Bildung tritt uns in den homerischen Ge- dichten so allseitig entwickelt und in sich gerundet entgegen, dass, wer keine weiter reichende Kunde hätte, meinen könnte, hier sei die unter den gegebenen Bedingungen des eigenen Volkswesens und der äusseren Verhältnisse den Griechen er- reichbare Höhe eigenthümlicher Cultur endgültig erreicht. In Wahrheit stehen die homerischen Dichtungen auf der Grenz- scheide einer älteren, zu vollkommener Reife gelangten Ent- wickelung und einer neuen, vielfach nach anderem Maasse be- stimmten Ordnung der Dinge. Sie selbst spiegeln in einem idealen Bilde die Vergangenheit ab, die im Begriff stand, Abschied zu nehmen. Die tiefe Bewegung der darnach folgen- den Zeiten können wir wohl an ihren endlichen Ergebnissen ermessen, die in ihr wirksamen Kräfte an einzelnen Symptomen errathen, in der Hauptsache aber gestattet die trümmerhafte Ueberlieferung aus dieser Zeit der Umwandlungen uns kaum mehr als das Vorhandensein aller Bedingungen einer gründ- lichen Umgestaltung des griechischen Lebens deutlich zu er- kennen. Wir sehen, wie bis dahin mehr zurückstehende griechische Stämme in den Vordergrund der Geschichte treten, auf den Trümmern des Alten neue Reiche, nach dem Rechte der Eroberung gestaltet, errichten, ihre besondere Art der Lebensstimmung zur Geltung bringen; wie in weit verbreiteten Colonien das Griechenthum sich ausdehnt, in den Colonien, wie es zu geschehen pflegt, den Stufengang der Culturentwicke- lung in schnellerer Bewegung durchmisst. Handel und Gewerb- thätigkeit blühen auf, gesteigerte Bedürfnisse hervorrufend und befriedigend; neue Schichten der Bevölkerung dringen nach
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Der Seelencult.
Die griechische Bildung tritt uns in den homerischen Ge-
dichten so allseitig entwickelt und in sich gerundet entgegen,
dass, wer keine weiter reichende Kunde hätte, meinen könnte,
hier sei die unter den gegebenen Bedingungen des eigenen
Volkswesens und der äusseren Verhältnisse den Griechen er-
reichbare Höhe eigenthümlicher Cultur endgültig erreicht. In
Wahrheit stehen die homerischen Dichtungen auf der Grenz-
scheide einer älteren, zu vollkommener Reife gelangten Ent-
wickelung und einer neuen, vielfach nach anderem Maasse be-
stimmten Ordnung der Dinge. Sie selbst spiegeln in einem
idealen Bilde die Vergangenheit ab, die im Begriff stand,
Abschied zu nehmen. Die tiefe Bewegung der darnach folgen-
den Zeiten können wir wohl an ihren endlichen Ergebnissen
ermessen, die in ihr wirksamen Kräfte an einzelnen Symptomen
errathen, in der Hauptsache aber gestattet die trümmerhafte
Ueberlieferung aus dieser Zeit der Umwandlungen uns kaum
mehr als das Vorhandensein aller Bedingungen einer gründ-
lichen Umgestaltung des griechischen Lebens deutlich zu er-
kennen. Wir sehen, wie bis dahin mehr zurückstehende
griechische Stämme in den Vordergrund der Geschichte treten,
auf den Trümmern des Alten neue Reiche, nach dem Rechte
der Eroberung gestaltet, errichten, ihre besondere Art der
Lebensstimmung zur Geltung bringen; wie in weit verbreiteten
Colonien das Griechenthum sich ausdehnt, in den Colonien,
wie es zu geschehen pflegt, den Stufengang der Culturentwicke-
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. [187]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/203>, abgerufen am 22.12.2024.
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