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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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vieler, die wohl einst umliefen, ein uns zufällig erhaltenes Bei-
spiel lehren. Bei Temesa in Lucanien ging einst ein Heros
um, und erwürgte, wen er von den Einwohnern ergreifen
konnte. Die Bewohner von Temesa, welche schon an Aus-
wanderung aus Italien dachten, wandten sich in ihrer Noth an
das delphische Orakel, und erfuhren da, dass das Gespenst
der Geist eines einst von Einwohnern des Landes wegen Schän-
dung einer Jungfrau erschlagenen Fremden sei1); man solle ihm
einen heiligen Bezirk weihen, einen Tempel bauen und zum
Opfer ihm alljährlich die schönste der Jungfrauen von Temesa
preisgeben. So thaten die Bürger von Temesa, der Geist liess
ihnen im Uebrigen Ruhe, aber alljährlich fiel ihm das gräss-
liche Opfer. Da kam, in der 77. Olympiade, ein berühmter
Faustkämpfer, Euthymos aus Lokri, von Olympia sieggekränzt
nach Italien zurück; er hörte zu Temesa von dem eben bevor-
stehenden Opfer, drang in den Tempel ein, wo die auserlesene
Jungfrau auf den Heros wartete, Mitleid und Liebe ergriff
ihn. Und als der Heros nun herankam, liess der schon in so
vielen Zweikämpfen Siegreiche sich in einen Kampf mit ihm
ein, trieb ihn schliesslich in's Meer, und befreite die Landschaft
von dem Ungethüm. Es ist wie in unsern Märchen von dem
Jungen, der auszog, das Gruseln zu lernen2); und natürlich,

1) Nach Pausanias wird der Geist als der eines Gefährten des
Odysseus erklärt. Strabo nennt genauer den Polites, einen der Genossen
des Odysseus. Aber die Copie eines alten Gemäldes, welches das Aben-
teuer darstellte, nannte den Dämon vielmehr Lykas, und zeigte ihn
schwarz, in furchtbarer Bildung und mit einem Wolfsfell bekleidet.
Letzteres wohl nur andeutend statt völliger Wolfsgestalt, wie sie der
athenische Heros Lykos zeigte (Harpocrat. s. dekazon). Wolfsgestalt für
einen todbringenden Geist der Unterwelt, wie noch öfter. Dies wird die
ältere Sagengestalt sein. Erst nachträglich mag der Dämon heroisirt
worden sein.
2) Im Uebrigen klingt die Geschichte ja vornehmlich an an griechische
Märchen, in denen von ähnlichen Befreiungsthaten erzählt wird; nicht
nur an die Sagen von Perseus und Andromeda, Herakles und Hesione,
sondern auch an den Kampf des Herakles mit Thanatos um Alkestis bei
Euripides, des Koroibos mit der Poine in Argos, wird man sich erinnert
fühlen. Bis in Einzelheiten stimmt aber die Sage von Euthymos und dem

vieler, die wohl einst umliefen, ein uns zufällig erhaltenes Bei-
spiel lehren. Bei Temesa in Lucanien ging einst ein Heros
um, und erwürgte, wen er von den Einwohnern ergreifen
konnte. Die Bewohner von Temesa, welche schon an Aus-
wanderung aus Italien dachten, wandten sich in ihrer Noth an
das delphische Orakel, und erfuhren da, dass das Gespenst
der Geist eines einst von Einwohnern des Landes wegen Schän-
dung einer Jungfrau erschlagenen Fremden sei1); man solle ihm
einen heiligen Bezirk weihen, einen Tempel bauen und zum
Opfer ihm alljährlich die schönste der Jungfrauen von Temesa
preisgeben. So thaten die Bürger von Temesa, der Geist liess
ihnen im Uebrigen Ruhe, aber alljährlich fiel ihm das gräss-
liche Opfer. Da kam, in der 77. Olympiade, ein berühmter
Faustkämpfer, Euthymos aus Lokri, von Olympia sieggekränzt
nach Italien zurück; er hörte zu Temesa von dem eben bevor-
stehenden Opfer, drang in den Tempel ein, wo die auserlesene
Jungfrau auf den Heros wartete, Mitleid und Liebe ergriff
ihn. Und als der Heros nun herankam, liess der schon in so
vielen Zweikämpfen Siegreiche sich in einen Kampf mit ihm
ein, trieb ihn schliesslich in’s Meer, und befreite die Landschaft
von dem Ungethüm. Es ist wie in unsern Märchen von dem
Jungen, der auszog, das Gruseln zu lernen2); und natürlich,

1) Nach Pausanias wird der Geist als der eines Gefährten des
Odysseus erklärt. Strabo nennt genauer den Polites, einen der Genossen
des Odysseus. Aber die Copie eines alten Gemäldes, welches das Aben-
teuer darstellte, nannte den Dämon vielmehr Lykas, und zeigte ihn
schwarz, in furchtbarer Bildung und mit einem Wolfsfell bekleidet.
Letzteres wohl nur andeutend statt völliger Wolfsgestalt, wie sie der
athenische Heros Lykos zeigte (Harpocrat. s. δεκάζων). Wolfsgestalt für
einen todbringenden Geist der Unterwelt, wie noch öfter. Dies wird die
ältere Sagengestalt sein. Erst nachträglich mag der Dämon heroisirt
worden sein.
2) Im Uebrigen klingt die Geschichte ja vornehmlich an an griechische
Märchen, in denen von ähnlichen Befreiungsthaten erzählt wird; nicht
nur an die Sagen von Perseus und Andromeda, Herakles und Hesione,
sondern auch an den Kampf des Herakles mit Thanatos um Alkestis bei
Euripides, des Koroibos mit der Ποίνη in Argos, wird man sich erinnert
fühlen. Bis in Einzelheiten stimmt aber die Sage von Euthymos und dem
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[180/0196] vieler, die wohl einst umliefen, ein uns zufällig erhaltenes Bei- spiel lehren. Bei Temesa in Lucanien ging einst ein Heros um, und erwürgte, wen er von den Einwohnern ergreifen konnte. Die Bewohner von Temesa, welche schon an Aus- wanderung aus Italien dachten, wandten sich in ihrer Noth an das delphische Orakel, und erfuhren da, dass das Gespenst der Geist eines einst von Einwohnern des Landes wegen Schän- dung einer Jungfrau erschlagenen Fremden sei 1); man solle ihm einen heiligen Bezirk weihen, einen Tempel bauen und zum Opfer ihm alljährlich die schönste der Jungfrauen von Temesa preisgeben. So thaten die Bürger von Temesa, der Geist liess ihnen im Uebrigen Ruhe, aber alljährlich fiel ihm das gräss- liche Opfer. Da kam, in der 77. Olympiade, ein berühmter Faustkämpfer, Euthymos aus Lokri, von Olympia sieggekränzt nach Italien zurück; er hörte zu Temesa von dem eben bevor- stehenden Opfer, drang in den Tempel ein, wo die auserlesene Jungfrau auf den Heros wartete, Mitleid und Liebe ergriff ihn. Und als der Heros nun herankam, liess der schon in so vielen Zweikämpfen Siegreiche sich in einen Kampf mit ihm ein, trieb ihn schliesslich in’s Meer, und befreite die Landschaft von dem Ungethüm. Es ist wie in unsern Märchen von dem Jungen, der auszog, das Gruseln zu lernen 2); und natürlich, 1) Nach Pausanias wird der Geist als der eines Gefährten des Odysseus erklärt. Strabo nennt genauer den Polites, einen der Genossen des Odysseus. Aber die Copie eines alten Gemäldes, welches das Aben- teuer darstellte, nannte den Dämon vielmehr Lykas, und zeigte ihn schwarz, in furchtbarer Bildung und mit einem Wolfsfell bekleidet. Letzteres wohl nur andeutend statt völliger Wolfsgestalt, wie sie der athenische Heros Lykos zeigte (Harpocrat. s. δεκάζων). Wolfsgestalt für einen todbringenden Geist der Unterwelt, wie noch öfter. Dies wird die ältere Sagengestalt sein. Erst nachträglich mag der Dämon heroisirt worden sein. 2) Im Uebrigen klingt die Geschichte ja vornehmlich an an griechische Märchen, in denen von ähnlichen Befreiungsthaten erzählt wird; nicht nur an die Sagen von Perseus und Andromeda, Herakles und Hesione, sondern auch an den Kampf des Herakles mit Thanatos um Alkestis bei Euripides, des Koroibos mit der Ποίνη in Argos, wird man sich erinnert fühlen. Bis in Einzelheiten stimmt aber die Sage von Euthymos und dem

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/196>, abgerufen am 25.11.2024.