Dieses Buch will, indem es die Meinungen der Griechen von dem Leben der menschlichen Seele nach dem Tode darlegt, einen Beitrag zu einer Geschichte griechischer Religion geben. Ein solches Unternehmen hat in besonderem Maasse mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die einer jeden Untersuchung des religiösen Gedankenlebens der Griechen sich entgegenstellen. Die griechische Religion, als eine gewordene, nicht gestiftete Reli- gion, hat den Gedanken und Gefühlen, die sie von innen be- stimmen und nach aussen gestalten, niemals begrifflichen Aus- druck gegeben. In religiösen Handlungen allein stellte sie sich dar; sie hat keine Religionsbücher, aus denen der tiefste Sinn und der Zusammenhang der Gedanken, in denen der Grieche zu den göttlichen Mächten, die sein Glaube ihm schuf, in Beziehung trat, sich ablesen liesse. Gedanken und Phantasie griechischer Dichter umspielen den, trotz des Mangels begrifflicher Entwick- lung, oder vielleicht eben deswegen, wunderbar sicher bei seiner ursprünglichen Art verharrenden Kern griechischer Volksreligion. Dichter und Philosophen bieten in dem, was von ihren Schriften auf unsere Zeit gekommen ist, die einzigen Urkunden griechi- schen religiösen Gedankenlebens dar. Sie mussten auch bei der hier unternommenen Forschung auf lange Strecken die Führer sein. Aber wenn auch, in griechischen Lebensverhältnissen, die religiösen Anschauungen der Dichter und Philosophen schon an und für sich einen wichtigen Theil griechischer Religion über- haupt darstellen, so lassen sie doch immer nur die Stellung er- kennen, die der Einzelne, in voller Freiheit der Entscheidung,
Vorwort.
Dieses Buch will, indem es die Meinungen der Griechen von dem Leben der menschlichen Seele nach dem Tode darlegt, einen Beitrag zu einer Geschichte griechischer Religion geben. Ein solches Unternehmen hat in besonderem Maasse mit den Schwierigkeiten zu kämpfen, die einer jeden Untersuchung des religiösen Gedankenlebens der Griechen sich entgegenstellen. Die griechische Religion, als eine gewordene, nicht gestiftete Reli- gion, hat den Gedanken und Gefühlen, die sie von innen be- stimmen und nach aussen gestalten, niemals begrifflichen Aus- druck gegeben. In religiösen Handlungen allein stellte sie sich dar; sie hat keine Religionsbücher, aus denen der tiefste Sinn und der Zusammenhang der Gedanken, in denen der Grieche zu den göttlichen Mächten, die sein Glaube ihm schuf, in Beziehung trat, sich ablesen liesse. Gedanken und Phantasie griechischer Dichter umspielen den, trotz des Mangels begrifflicher Entwick- lung, oder vielleicht eben deswegen, wunderbar sicher bei seiner ursprünglichen Art verharrenden Kern griechischer Volksreligion. Dichter und Philosophen bieten in dem, was von ihren Schriften auf unsere Zeit gekommen ist, die einzigen Urkunden griechi- schen religiösen Gedankenlebens dar. Sie mussten auch bei der hier unternommenen Forschung auf lange Strecken die Führer sein. Aber wenn auch, in griechischen Lebensverhältnissen, die religiösen Anschauungen der Dichter und Philosophen schon an und für sich einen wichtigen Theil griechischer Religion über- haupt darstellen, so lassen sie doch immer nur die Stellung er- kennen, die der Einzelne, in voller Freiheit der Entscheidung,
<TEI><text><front><pbfacs="#f0011"n="[III]"/><divn="1"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Vorwort</hi>.</hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Dieses Buch will, indem es die Meinungen der Griechen<lb/>
von dem Leben der menschlichen Seele nach dem Tode darlegt,<lb/>
einen Beitrag zu einer Geschichte griechischer Religion geben.<lb/>
Ein solches Unternehmen hat in besonderem Maasse mit den<lb/>
Schwierigkeiten zu kämpfen, die einer jeden Untersuchung des<lb/>
religiösen Gedankenlebens der Griechen sich entgegenstellen. Die<lb/>
griechische Religion, als eine gewordene, nicht gestiftete Reli-<lb/>
gion, hat den Gedanken und Gefühlen, die sie von innen be-<lb/>
stimmen und nach aussen gestalten, niemals begrifflichen Aus-<lb/>
druck gegeben. In religiösen Handlungen allein stellte sie sich<lb/>
dar; sie hat keine Religionsbücher, aus denen der tiefste Sinn<lb/>
und der Zusammenhang der Gedanken, in denen der Grieche zu<lb/>
den göttlichen Mächten, die sein Glaube ihm schuf, in Beziehung<lb/>
trat, sich ablesen liesse. Gedanken und Phantasie griechischer<lb/>
Dichter umspielen den, trotz des Mangels begrifflicher Entwick-<lb/>
lung, oder vielleicht eben deswegen, wunderbar sicher bei seiner<lb/>
ursprünglichen Art verharrenden Kern griechischer Volksreligion.<lb/>
Dichter und Philosophen bieten in dem, was von ihren Schriften<lb/>
auf unsere Zeit gekommen ist, die einzigen Urkunden griechi-<lb/>
schen religiösen Gedankenlebens dar. Sie mussten auch bei der<lb/>
hier unternommenen Forschung auf lange Strecken die Führer<lb/>
sein. Aber wenn auch, in griechischen Lebensverhältnissen, die<lb/>
religiösen Anschauungen der Dichter und Philosophen schon an<lb/>
und für sich einen wichtigen Theil griechischer Religion über-<lb/>
haupt darstellen, so lassen sie doch immer nur die Stellung er-<lb/>
kennen, die der Einzelne, in voller Freiheit der Entscheidung,<lb/></p></div></front></text></TEI>
[[III]/0011]
Vorwort.
Dieses Buch will, indem es die Meinungen der Griechen
von dem Leben der menschlichen Seele nach dem Tode darlegt,
einen Beitrag zu einer Geschichte griechischer Religion geben.
Ein solches Unternehmen hat in besonderem Maasse mit den
Schwierigkeiten zu kämpfen, die einer jeden Untersuchung des
religiösen Gedankenlebens der Griechen sich entgegenstellen. Die
griechische Religion, als eine gewordene, nicht gestiftete Reli-
gion, hat den Gedanken und Gefühlen, die sie von innen be-
stimmen und nach aussen gestalten, niemals begrifflichen Aus-
druck gegeben. In religiösen Handlungen allein stellte sie sich
dar; sie hat keine Religionsbücher, aus denen der tiefste Sinn
und der Zusammenhang der Gedanken, in denen der Grieche zu
den göttlichen Mächten, die sein Glaube ihm schuf, in Beziehung
trat, sich ablesen liesse. Gedanken und Phantasie griechischer
Dichter umspielen den, trotz des Mangels begrifflicher Entwick-
lung, oder vielleicht eben deswegen, wunderbar sicher bei seiner
ursprünglichen Art verharrenden Kern griechischer Volksreligion.
Dichter und Philosophen bieten in dem, was von ihren Schriften
auf unsere Zeit gekommen ist, die einzigen Urkunden griechi-
schen religiösen Gedankenlebens dar. Sie mussten auch bei der
hier unternommenen Forschung auf lange Strecken die Führer
sein. Aber wenn auch, in griechischen Lebensverhältnissen, die
religiösen Anschauungen der Dichter und Philosophen schon an
und für sich einen wichtigen Theil griechischer Religion über-
haupt darstellen, so lassen sie doch immer nur die Stellung er-
kennen, die der Einzelne, in voller Freiheit der Entscheidung,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. [III]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/11>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.