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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876.

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Wie immer, so schoben sich beide Partheien wechselseitig
die Schuld dieses Scandales zu, der auf das Land wie den
Hof einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht zu haben scheint.
Wenigstens schrieb der König einen außerordentlichen Reichstag
auf den 4. August 1750 in Warschau aus und kam selbst be-
reits im April (24.) dorthin, um mit dem Senat die Vor-
lagen zu berathen. Man dachte von Seiten des Hofes zum
erstenmale ernstlicher an eine Durchführung der dringendsten Re-
formen. Zu diesem Zweck sollten die ukrainischen Landtage,
welche von den Potockis beherrscht wurden, planmäßig zer-
rissen werden, der Reichstag selbst aber sich in eine Conföde-
ration, bei welcher Stimmenmehrheit entschied, unter dem Titel
unio salvandae reipublicae, verwandeln, und sowohl eine neue
Lustration, gegen welche sich am meisten die östlichen Land-
schaften zu sträuben pflegten, beschließen, als auch die Ein-
führung der Stimmenmehrheit für alle Reichstagsbeschlüsse in
Angelegenheiten des Schatzes. Das erste hatte den Zweck, durch
eine neue Einschätzung aller Güter die Steuereinnahmen der
Krone zu vermehren; das zweite schloß eine wesentliche Be-
schränkung des liberum veto ein. Den Erfolg zu sichern, sollte
Waclaw Rzewuski, der Woiwode von Podolien, der als "ein
Mann von großem Verstande, milden Sinnes und aufrichtiger
Vaterlandsliebe bekannt und zugleich am Hofe und bei der
"Familie" wie im Lande angesehen und populär war 1), Mar-
schall werden, und da nach den Gesetzen kein Woiwode Land-
bote sein durfte, vor den Wahlen auf sein Amt verzichten.
Wie ernst es der herrschenden Parthei damals mit diesen
Plänen war, welche mit den Reformen der Czartoryski vom
Jahre 1764 fast völlig übereinstimmen, geht daraus hervor,

Bericht mit den characteristischen Worten: "Den ganzen Tag vacat ru-
fend, und mit den gezogenen Säbeln sich bedrohend, verließen alle beim
Dunkelwerden die Kirche und Petrikau, da ihnen der junge Stier ent-
gangen war, dessen Fleisch in Stücke zu zerhauen sie Appetit gehabt
hatten." Mit dem "jungen Stier" spielt er auf das Wappen der Po-
niatowski, Ciolek, an.
1) Kitowicz, Pamietn., p. 17.

Wie immer, ſo ſchoben ſich beide Partheien wechſelſeitig
die Schuld dieſes Scandales zu, der auf das Land wie den
Hof einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht zu haben ſcheint.
Wenigſtens ſchrieb der König einen außerordentlichen Reichstag
auf den 4. Auguſt 1750 in Warſchau aus und kam ſelbſt be-
reits im April (24.) dorthin, um mit dem Senat die Vor-
lagen zu berathen. Man dachte von Seiten des Hofes zum
erſtenmale ernſtlicher an eine Durchführung der dringendſten Re-
formen. Zu dieſem Zweck ſollten die ukrainiſchen Landtage,
welche von den Potockis beherrſcht wurden, planmäßig zer-
riſſen werden, der Reichstag ſelbſt aber ſich in eine Conföde-
ration, bei welcher Stimmenmehrheit entſchied, unter dem Titel
unio salvandae reipublicae, verwandeln, und ſowohl eine neue
Luſtration, gegen welche ſich am meiſten die öſtlichen Land-
ſchaften zu ſträuben pflegten, beſchließen, als auch die Ein-
führung der Stimmenmehrheit für alle Reichstagsbeſchlüſſe in
Angelegenheiten des Schatzes. Das erſte hatte den Zweck, durch
eine neue Einſchätzung aller Güter die Steuereinnahmen der
Krone zu vermehren; das zweite ſchloß eine weſentliche Be-
ſchränkung des liberum veto ein. Den Erfolg zu ſichern, ſollte
Waclaw Rzewuski, der Woiwode von Podolien, der als „ein
Mann von großem Verſtande, milden Sinnes und aufrichtiger
Vaterlandsliebe bekannt und zugleich am Hofe und bei der
„Familie“ wie im Lande angeſehen und populär war 1), Mar-
ſchall werden, und da nach den Geſetzen kein Woiwode Land-
bote ſein durfte, vor den Wahlen auf ſein Amt verzichten.
Wie ernſt es der herrſchenden Parthei damals mit dieſen
Plänen war, welche mit den Reformen der Czartoryski vom
Jahre 1764 faſt völlig übereinſtimmen, geht daraus hervor,

Bericht mit den characteriſtiſchen Worten: „Den ganzen Tag vacat ru-
fend, und mit den gezogenen Säbeln ſich bedrohend, verließen alle beim
Dunkelwerden die Kirche und Petrikau, da ihnen der junge Stier ent-
gangen war, deſſen Fleiſch in Stücke zu zerhauen ſie Appetit gehabt
hatten.“ Mit dem „jungen Stier“ ſpielt er auf das Wappen der Po-
niatowski, Ciolek, an.
1) Kitowicz, Pamiętn., p. 17.
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[79/0093] Wie immer, ſo ſchoben ſich beide Partheien wechſelſeitig die Schuld dieſes Scandales zu, der auf das Land wie den Hof einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht zu haben ſcheint. Wenigſtens ſchrieb der König einen außerordentlichen Reichstag auf den 4. Auguſt 1750 in Warſchau aus und kam ſelbſt be- reits im April (24.) dorthin, um mit dem Senat die Vor- lagen zu berathen. Man dachte von Seiten des Hofes zum erſtenmale ernſtlicher an eine Durchführung der dringendſten Re- formen. Zu dieſem Zweck ſollten die ukrainiſchen Landtage, welche von den Potockis beherrſcht wurden, planmäßig zer- riſſen werden, der Reichstag ſelbſt aber ſich in eine Conföde- ration, bei welcher Stimmenmehrheit entſchied, unter dem Titel unio salvandae reipublicae, verwandeln, und ſowohl eine neue Luſtration, gegen welche ſich am meiſten die öſtlichen Land- ſchaften zu ſträuben pflegten, beſchließen, als auch die Ein- führung der Stimmenmehrheit für alle Reichstagsbeſchlüſſe in Angelegenheiten des Schatzes. Das erſte hatte den Zweck, durch eine neue Einſchätzung aller Güter die Steuereinnahmen der Krone zu vermehren; das zweite ſchloß eine weſentliche Be- ſchränkung des liberum veto ein. Den Erfolg zu ſichern, ſollte Waclaw Rzewuski, der Woiwode von Podolien, der als „ein Mann von großem Verſtande, milden Sinnes und aufrichtiger Vaterlandsliebe bekannt und zugleich am Hofe und bei der „Familie“ wie im Lande angeſehen und populär war 1), Mar- ſchall werden, und da nach den Geſetzen kein Woiwode Land- bote ſein durfte, vor den Wahlen auf ſein Amt verzichten. Wie ernſt es der herrſchenden Parthei damals mit dieſen Plänen war, welche mit den Reformen der Czartoryski vom Jahre 1764 faſt völlig übereinſtimmen, geht daraus hervor, 1) 1) Kitowicz, Pamiętn., p. 17. 1) Bericht mit den characteriſtiſchen Worten: „Den ganzen Tag vacat ru- fend, und mit den gezogenen Säbeln ſich bedrohend, verließen alle beim Dunkelwerden die Kirche und Petrikau, da ihnen der junge Stier ent- gangen war, deſſen Fleiſch in Stücke zu zerhauen ſie Appetit gehabt hatten.“ Mit dem „jungen Stier“ ſpielt er auf das Wappen der Po- niatowski, Ciolek, an.

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Zitationshilfe: Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/93>, abgerufen am 24.11.2024.