Recht und Gerechtigkeit, und ihre Entscheidungen, so weit sie nicht durch Betrug, Fälschung und Bestechung erschlichen oder erkauft waren, waren nichts anderes als Entscheidungen zu Gunsten der Parthei, die in den Wahlen der Richter gesiegt hatte. Eben daher setzte sich auch nicht grade selten der Kampf der Partheien selbst noch bei der Constituirung der Tribunale fort, welche von der einen oder der andern zugleich mit der Einsetzung ihres Marschalls (Präsidenten) mit offener Waffen- gewalt nach ihrem Sinn und Interesse durchgesetzt ward. Be- reits der Reichstag von 1726 hatte durch eine lange Reihe von Beschlüssen, aus welchen man allein schon das tiefe Ver- derben des gesamten Gerichtswesens jener Zeit kennen lernen kann, demselben zu steuern versucht1). Diese Beschlüsse aber wurden nicht durchgeführt, und wie oft auch noch später die Klagen über dies Unwesen laut erhoben wurden, es kam hierin eben so wenig wie in allen andern Verhältnissen zu irgend einer Verbesserung. Vergebens rief Garczynski seinen Lands- leuten zu: "Regna sine justitia sunt mera latrocinia! -- das durch diese Zustände hervorgerufene polnische Sprüchwort, daß in Polen das Recht einem Spinnengewebe gleiche, welches der Sperling zerreiße, in dem aber die Mücke sich fange, behielt nach wie vor seine Wahrheit.
Ziehen wir von all diesem schließlich die Summe, so müssen wir gestehen, die Republik lag um die Mitte des 18. Jahr- hunderts im tiefsten Verfall. Das sociale wie politische Leben all ihrer Glieder war durch und durch krank. In den höheren Ständen, den gebildeten "Herren" herrschten Stolz und Ehr- geiz und ein Selbstgefühl vor, welches fast nur darauf bedacht war, den Einfluß und die Macht, welche ihre Stellung ihnen im öffentlichen Leben gab, zur Befriedigung ihrer Leidenschaften, der Herrschsucht und des Genusses, nach Willkühr auszubeuten. Der Massenadel, im Durchschnitt ungebildet und roh, gewalt- thätig und unterwürfig zugleich, dem Müßiggang und zügel- loser Genußsucht hingegeben, lebte ohne viel Besinnung von
1) Vgl. Volum. leg. VI, 418 sqq.
Recht und Gerechtigkeit, und ihre Entſcheidungen, ſo weit ſie nicht durch Betrug, Fälſchung und Beſtechung erſchlichen oder erkauft waren, waren nichts anderes als Entſcheidungen zu Gunſten der Parthei, die in den Wahlen der Richter geſiegt hatte. Eben daher ſetzte ſich auch nicht grade ſelten der Kampf der Partheien ſelbſt noch bei der Conſtituirung der Tribunale fort, welche von der einen oder der andern zugleich mit der Einſetzung ihres Marſchalls (Präſidenten) mit offener Waffen- gewalt nach ihrem Sinn und Intereſſe durchgeſetzt ward. Be- reits der Reichstag von 1726 hatte durch eine lange Reihe von Beſchlüſſen, aus welchen man allein ſchon das tiefe Ver- derben des geſamten Gerichtsweſens jener Zeit kennen lernen kann, demſelben zu ſteuern verſucht1). Dieſe Beſchlüſſe aber wurden nicht durchgeführt, und wie oft auch noch ſpäter die Klagen über dies Unweſen laut erhoben wurden, es kam hierin eben ſo wenig wie in allen andern Verhältniſſen zu irgend einer Verbeſſerung. Vergebens rief Garczynski ſeinen Lands- leuten zu: „Regna sine justitia sunt mera latrocinia! — das durch dieſe Zuſtände hervorgerufene polniſche Sprüchwort, daß in Polen das Recht einem Spinnengewebe gleiche, welches der Sperling zerreiße, in dem aber die Mücke ſich fange, behielt nach wie vor ſeine Wahrheit.
Ziehen wir von all dieſem ſchließlich die Summe, ſo müſſen wir geſtehen, die Republik lag um die Mitte des 18. Jahr- hunderts im tiefſten Verfall. Das ſociale wie politiſche Leben all ihrer Glieder war durch und durch krank. In den höheren Ständen, den gebildeten „Herren“ herrſchten Stolz und Ehr- geiz und ein Selbſtgefühl vor, welches faſt nur darauf bedacht war, den Einfluß und die Macht, welche ihre Stellung ihnen im öffentlichen Leben gab, zur Befriedigung ihrer Leidenſchaften, der Herrſchſucht und des Genuſſes, nach Willkühr auszubeuten. Der Maſſenadel, im Durchſchnitt ungebildet und roh, gewalt- thätig und unterwürfig zugleich, dem Müßiggang und zügel- loſer Genußſucht hingegeben, lebte ohne viel Beſinnung von
1) Vgl. Volum. leg. VI, 418 sqq.
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Recht und Gerechtigkeit, und ihre Entſcheidungen, ſo weit ſie
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erkauft waren, waren nichts anderes als Entſcheidungen zu
Gunſten der Parthei, die in den Wahlen der Richter geſiegt
hatte. Eben daher ſetzte ſich auch nicht grade ſelten der Kampf
der Partheien ſelbſt noch bei der Conſtituirung der Tribunale
fort, welche von der einen oder der andern zugleich mit der
Einſetzung ihres Marſchalls (Präſidenten) mit offener Waffen-
gewalt nach ihrem Sinn und Intereſſe durchgeſetzt ward. Be-
reits der Reichstag von 1726 hatte durch eine lange Reihe
von Beſchlüſſen, aus welchen man allein ſchon das tiefe Ver-
derben des geſamten Gerichtsweſens jener Zeit kennen lernen
kann, demſelben zu ſteuern verſucht 1). Dieſe Beſchlüſſe aber
wurden nicht durchgeführt, und wie oft auch noch ſpäter die
Klagen über dies Unweſen laut erhoben wurden, es kam hierin
eben ſo wenig wie in allen andern Verhältniſſen zu irgend
einer Verbeſſerung. Vergebens rief Garczynski ſeinen Lands-
leuten zu: „Regna sine justitia sunt mera latrocinia! — das
durch dieſe Zuſtände hervorgerufene polniſche Sprüchwort, daß
in Polen das Recht einem Spinnengewebe gleiche, welches der
Sperling zerreiße, in dem aber die Mücke ſich fange, behielt
nach wie vor ſeine Wahrheit.
Ziehen wir von all dieſem ſchließlich die Summe, ſo müſſen
wir geſtehen, die Republik lag um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts im tiefſten Verfall. Das ſociale wie politiſche Leben
all ihrer Glieder war durch und durch krank. In den höheren
Ständen, den gebildeten „Herren“ herrſchten Stolz und Ehr-
geiz und ein Selbſtgefühl vor, welches faſt nur darauf bedacht
war, den Einfluß und die Macht, welche ihre Stellung ihnen
im öffentlichen Leben gab, zur Befriedigung ihrer Leidenſchaften,
der Herrſchſucht und des Genuſſes, nach Willkühr auszubeuten.
Der Maſſenadel, im Durchſchnitt ungebildet und roh, gewalt-
thätig und unterwürfig zugleich, dem Müßiggang und zügel-
loſer Genußſucht hingegeben, lebte ohne viel Beſinnung von
1) Vgl. Volum. leg. VI, 418 sqq.
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Roepell, Richard: Polen um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Gotha, 1876, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roepell_polen_1876/37>, abgerufen am 16.02.2025.
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