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Röll, [Victor] von (Hrsg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. 2. Aufl. Bd. 10. Berlin, Wien, 1923.

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Vorschriften zum Ausdruck kommen, sondern auch in der praktischen V. lebendig erhalten werden.

IV. Das Problem der gemeinwirtschaftlichen Organisation.

Die Entwicklung zeigt, daß die Neigung, Geschäfte von unten nach oben zu ziehen, gerade dem Staatseisenbahnbetrieb und hier im besonderen dem unpersönlichen Dienststellensystem (vgl. oben II b) eigen ist, während bei der "englischen Verwaltungstype" eher die entgegengesetzte Grundrichtung obwaltet. Die unpersönliche Behörde verfügt über zahlreiches Hilfspersonal und läßt sich beliebig vergrößern, es liegt daher nahe, daß sie, wo nur immer möglich, sich lieber ihrer eigenen Kräfte als der ihr unterstellten örtlichen Organe bei der Erledigung ihrer Geschäfte bedient. Die Folge ist dann mangelhaftes Funktionieren der ganzen Organisation. Darum ist es kein Zufall, daß bei den Stäatseisenbahnen eine Organisation die andere jagt, während sich bei den Privatbahnen die Verwaltungseinrichtungen seit dem Anfang des Eisenbahnwesens kaum geändert haben. Jedenfalls sind Bureaukratismus, Doppelarbeit und Zentralismus konstitutionelle Krankheitserscheinungen am staatlichen Verwaltungsorganismus.

Es ist deshalb vorgeschlagen worden, die staatlichen Verkehrsbetriebe in die organisatorische Form der privaten Großunternehmungen zu kleiden, d. i. sie in Aktiengesellschaften umzuwandeln, bei denen der Staat die Gesamtheit oder doch die Mehrzahl der Aktien übernimmt1. Hierbei handelt es sich keineswegs darum, den Geist privatwirtschaftlichen Eigennutzes in die staatlichen Betriebe zu tragen, sondern vor allem darum, Einrichtungen, die kaufmännischem Unternehmungsgeist ihre Entstehung und Ausbildung verdanken und die sich im privaten Erwerbsleben der ganzen Welt seit Jahrhunderten bewährt haben, auf staatliche Betriebsverwaltungen zu übertragen, die organisatorische Form der privaten Großunternehmung mit ihrer größeren Selbstständigkeit und freieren Beweglichkeit für die staatlichen Verkehrsunternehmungen nutzbar zu machen und das persönliche Element, das den kaufmännischen Betrieb beherrscht, auch in den staatlichen Unternehmungen zur vollen Geltung zu bringen. Neben möglichster Entbureaukratisierung und wirksamer Dezentralisierung soll mit dieser "gemeinwirtschaftlichen" ("gemischtwirtschaftlichen", "gemischt-öffentlichen") Organisationsform auch das Problem der Entpolitisierung und weitgehenden finanziellen Autonomie (s. unter V.) der staatlichen Betriebe gelöst werden.

Es kommt dazu, daß dem Personal die Heranziehung zu positiver Mitarbeit bei der Verwaltung der Eisenbahnunternehmungen - u. zw. nicht bloß die Mitbestimmung bei der Regelung seiner Dienst- und Bezugsverhältnisse - nicht mehr verweigert werden kann. Sie kann auch der Verwaltung nur nützen, ist aber, wenn nicht gefährliche syndikalistische Wege ("le ferrovie ai ferrovieri") beschritten werden wollen, kaum anders als im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Gesellschaftsorganisation möglich. Die Mitbestimmung des Personals in dem Unternehmen wird durch das gleichzeitige Mitbestimmungsrecht von Staats- und Wirtschaftsleben ergänzt und modifiziert. Es entsteht ein Spiel der Kräfte, innerhalb dessen jeder Teil nur die sozial und wirtschaftlich vertretbaren Forderungen durchsetzt.

Die Zukunft muß lehren, ob sich tatsächlich der obrigkeitlich-fiskalische Staatsbetrieb überlebt hat und anderen Verwaltungsformen wird weichen müssen. Jedenfalls hat die neuere Entwicklung gezeigt, daß gerade in den großen Demokratien Frankreichs, Englands und Amerikas nach den Erfahrungen des Staatsbetriebs während der Kriegszeit wenig Neigung besteht, endgültig zum Staatseisenbahnbetrieb überzugehen; dagegen sind dort eisenbahnpolitische Umgestaltungen im Werke, die die großen privaten Eisenbahngesellschaften der gemeinwirtschaftlichen Organisationsform mehr oder minder nähern sollen. In Holland steht die volle Umbildung der großen Privatgesellschaften in eine gemischtwirtschaftliche Unternehmung unmittelbar bevor. In Deutschland hat diese Unternehmungsform bisher nur bei Verkehrsunternehmungen kleineren Umfangs (Hamburger Walddörferbahn) Eingang gefunden.

V. Die finanzielle Selbstverwaltung (Autonomie) der Staatsbahnen.

Um die Nachteile, mit denen die fiskalische Verwaltung der Staatseisenbahnen und die enge Verbindung ihrer Finanzwirtschaft mit dem allgemeinen Staatshaushalt verbunden ist, möglichst zu vermeiden, wurde erstmals in der Schweiz und in Italien der Versuch gemacht, dem staatlichen Eisenbahnunternehmen auch im Rahmen der obrigkeitlichen Verwaltung eine selbständige ("autonome") Stellung zu geben.

In Italien war der Beweggrund für die Einführung der "Autonomie" vor allem die Besorgnis, daß die Eisenbahnverwaltung in die politischen Tageskämpfe hineingezogen werden, die Erfüllung ihrer wirtschaftlichen Aufgabe darunter leiden und dem jeweiligen Ministerium ein Machtmittel in die Hand gegeben werden würde, das zur Korrumpierung des öffentlichen Lebens mißbraucht werden könnte; auch sollte die Stetigkeit der Verwaltung von dem häufigen Wechsel der Ministerien möglichst unbeeinflußt bleiben.

1 Der Staat oder die sonst beteiligten öffentlich-rechtlichen Verbände können sich statt dessen auch auf andere Weise einen bestimmenden Einfluß auf das Unternehmen sichern (vgl. zu der Frage Technik und Wirtschaft 1914, S. 835, Deutsche Straßen- und Kleinbahnzeitung 1912, S. 310, 1913, S. 702, 1915, S. 107).

Vorschriften zum Ausdruck kommen, sondern auch in der praktischen V. lebendig erhalten werden.

IV. Das Problem der gemeinwirtschaftlichen Organisation.

Die Entwicklung zeigt, daß die Neigung, Geschäfte von unten nach oben zu ziehen, gerade dem Staatseisenbahnbetrieb und hier im besonderen dem unpersönlichen Dienststellensystem (vgl. oben II b) eigen ist, während bei der „englischen Verwaltungstype“ eher die entgegengesetzte Grundrichtung obwaltet. Die unpersönliche Behörde verfügt über zahlreiches Hilfspersonal und läßt sich beliebig vergrößern, es liegt daher nahe, daß sie, wo nur immer möglich, sich lieber ihrer eigenen Kräfte als der ihr unterstellten örtlichen Organe bei der Erledigung ihrer Geschäfte bedient. Die Folge ist dann mangelhaftes Funktionieren der ganzen Organisation. Darum ist es kein Zufall, daß bei den Stäatseisenbahnen eine Organisation die andere jagt, während sich bei den Privatbahnen die Verwaltungseinrichtungen seit dem Anfang des Eisenbahnwesens kaum geändert haben. Jedenfalls sind Bureaukratismus, Doppelarbeit und Zentralismus konstitutionelle Krankheitserscheinungen am staatlichen Verwaltungsorganismus.

Es ist deshalb vorgeschlagen worden, die staatlichen Verkehrsbetriebe in die organisatorische Form der privaten Großunternehmungen zu kleiden, d. i. sie in Aktiengesellschaften umzuwandeln, bei denen der Staat die Gesamtheit oder doch die Mehrzahl der Aktien übernimmt1. Hierbei handelt es sich keineswegs darum, den Geist privatwirtschaftlichen Eigennutzes in die staatlichen Betriebe zu tragen, sondern vor allem darum, Einrichtungen, die kaufmännischem Unternehmungsgeist ihre Entstehung und Ausbildung verdanken und die sich im privaten Erwerbsleben der ganzen Welt seit Jahrhunderten bewährt haben, auf staatliche Betriebsverwaltungen zu übertragen, die organisatorische Form der privaten Großunternehmung mit ihrer größeren Selbstständigkeit und freieren Beweglichkeit für die staatlichen Verkehrsunternehmungen nutzbar zu machen und das persönliche Element, das den kaufmännischen Betrieb beherrscht, auch in den staatlichen Unternehmungen zur vollen Geltung zu bringen. Neben möglichster Entbureaukratisierung und wirksamer Dezentralisierung soll mit dieser „gemeinwirtschaftlichen“ („gemischtwirtschaftlichen“, „gemischt-öffentlichen“) Organisationsform auch das Problem der Entpolitisierung und weitgehenden finanziellen Autonomie (s. unter V.) der staatlichen Betriebe gelöst werden.

Es kommt dazu, daß dem Personal die Heranziehung zu positiver Mitarbeit bei der Verwaltung der Eisenbahnunternehmungen – u. zw. nicht bloß die Mitbestimmung bei der Regelung seiner Dienst- und Bezugsverhältnisse – nicht mehr verweigert werden kann. Sie kann auch der Verwaltung nur nützen, ist aber, wenn nicht gefährliche syndikalistische Wege („le ferrovie ai ferrovieri“) beschritten werden wollen, kaum anders als im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Gesellschaftsorganisation möglich. Die Mitbestimmung des Personals in dem Unternehmen wird durch das gleichzeitige Mitbestimmungsrecht von Staats- und Wirtschaftsleben ergänzt und modifiziert. Es entsteht ein Spiel der Kräfte, innerhalb dessen jeder Teil nur die sozial und wirtschaftlich vertretbaren Forderungen durchsetzt.

Die Zukunft muß lehren, ob sich tatsächlich der obrigkeitlich-fiskalische Staatsbetrieb überlebt hat und anderen Verwaltungsformen wird weichen müssen. Jedenfalls hat die neuere Entwicklung gezeigt, daß gerade in den großen Demokratien Frankreichs, Englands und Amerikas nach den Erfahrungen des Staatsbetriebs während der Kriegszeit wenig Neigung besteht, endgültig zum Staatseisenbahnbetrieb überzugehen; dagegen sind dort eisenbahnpolitische Umgestaltungen im Werke, die die großen privaten Eisenbahngesellschaften der gemeinwirtschaftlichen Organisationsform mehr oder minder nähern sollen. In Holland steht die volle Umbildung der großen Privatgesellschaften in eine gemischtwirtschaftliche Unternehmung unmittelbar bevor. In Deutschland hat diese Unternehmungsform bisher nur bei Verkehrsunternehmungen kleineren Umfangs (Hamburger Walddörferbahn) Eingang gefunden.

V. Die finanzielle Selbstverwaltung (Autonomie) der Staatsbahnen.

Um die Nachteile, mit denen die fiskalische Verwaltung der Staatseisenbahnen und die enge Verbindung ihrer Finanzwirtschaft mit dem allgemeinen Staatshaushalt verbunden ist, möglichst zu vermeiden, wurde erstmals in der Schweiz und in Italien der Versuch gemacht, dem staatlichen Eisenbahnunternehmen auch im Rahmen der obrigkeitlichen Verwaltung eine selbständige („autonome“) Stellung zu geben.

In Italien war der Beweggrund für die Einführung der „Autonomie“ vor allem die Besorgnis, daß die Eisenbahnverwaltung in die politischen Tageskämpfe hineingezogen werden, die Erfüllung ihrer wirtschaftlichen Aufgabe darunter leiden und dem jeweiligen Ministerium ein Machtmittel in die Hand gegeben werden würde, das zur Korrumpierung des öffentlichen Lebens mißbraucht werden könnte; auch sollte die Stetigkeit der Verwaltung von dem häufigen Wechsel der Ministerien möglichst unbeeinflußt bleiben.

1 Der Staat oder die sonst beteiligten öffentlich-rechtlichen Verbände können sich statt dessen auch auf andere Weise einen bestimmenden Einfluß auf das Unternehmen sichern (vgl. zu der Frage Technik und Wirtschaft 1914, S. 835, Deutsche Straßen- und Kleinbahnzeitung 1912, S. 310, 1913, S. 702, 1915, S. 107).
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[159/0174] Vorschriften zum Ausdruck kommen, sondern auch in der praktischen V. lebendig erhalten werden. IV. Das Problem der gemeinwirtschaftlichen Organisation. Die Entwicklung zeigt, daß die Neigung, Geschäfte von unten nach oben zu ziehen, gerade dem Staatseisenbahnbetrieb und hier im besonderen dem unpersönlichen Dienststellensystem (vgl. oben II b) eigen ist, während bei der „englischen Verwaltungstype“ eher die entgegengesetzte Grundrichtung obwaltet. Die unpersönliche Behörde verfügt über zahlreiches Hilfspersonal und läßt sich beliebig vergrößern, es liegt daher nahe, daß sie, wo nur immer möglich, sich lieber ihrer eigenen Kräfte als der ihr unterstellten örtlichen Organe bei der Erledigung ihrer Geschäfte bedient. Die Folge ist dann mangelhaftes Funktionieren der ganzen Organisation. Darum ist es kein Zufall, daß bei den Stäatseisenbahnen eine Organisation die andere jagt, während sich bei den Privatbahnen die Verwaltungseinrichtungen seit dem Anfang des Eisenbahnwesens kaum geändert haben. Jedenfalls sind Bureaukratismus, Doppelarbeit und Zentralismus konstitutionelle Krankheitserscheinungen am staatlichen Verwaltungsorganismus. Es ist deshalb vorgeschlagen worden, die staatlichen Verkehrsbetriebe in die organisatorische Form der privaten Großunternehmungen zu kleiden, d. i. sie in Aktiengesellschaften umzuwandeln, bei denen der Staat die Gesamtheit oder doch die Mehrzahl der Aktien übernimmt 1. Hierbei handelt es sich keineswegs darum, den Geist privatwirtschaftlichen Eigennutzes in die staatlichen Betriebe zu tragen, sondern vor allem darum, Einrichtungen, die kaufmännischem Unternehmungsgeist ihre Entstehung und Ausbildung verdanken und die sich im privaten Erwerbsleben der ganzen Welt seit Jahrhunderten bewährt haben, auf staatliche Betriebsverwaltungen zu übertragen, die organisatorische Form der privaten Großunternehmung mit ihrer größeren Selbstständigkeit und freieren Beweglichkeit für die staatlichen Verkehrsunternehmungen nutzbar zu machen und das persönliche Element, das den kaufmännischen Betrieb beherrscht, auch in den staatlichen Unternehmungen zur vollen Geltung zu bringen. Neben möglichster Entbureaukratisierung und wirksamer Dezentralisierung soll mit dieser „gemeinwirtschaftlichen“ („gemischtwirtschaftlichen“, „gemischt-öffentlichen“) Organisationsform auch das Problem der Entpolitisierung und weitgehenden finanziellen Autonomie (s. unter V.) der staatlichen Betriebe gelöst werden. Es kommt dazu, daß dem Personal die Heranziehung zu positiver Mitarbeit bei der Verwaltung der Eisenbahnunternehmungen – u. zw. nicht bloß die Mitbestimmung bei der Regelung seiner Dienst- und Bezugsverhältnisse – nicht mehr verweigert werden kann. Sie kann auch der Verwaltung nur nützen, ist aber, wenn nicht gefährliche syndikalistische Wege („le ferrovie ai ferrovieri“) beschritten werden wollen, kaum anders als im Rahmen der gemeinwirtschaftlichen Gesellschaftsorganisation möglich. Die Mitbestimmung des Personals in dem Unternehmen wird durch das gleichzeitige Mitbestimmungsrecht von Staats- und Wirtschaftsleben ergänzt und modifiziert. Es entsteht ein Spiel der Kräfte, innerhalb dessen jeder Teil nur die sozial und wirtschaftlich vertretbaren Forderungen durchsetzt. Die Zukunft muß lehren, ob sich tatsächlich der obrigkeitlich-fiskalische Staatsbetrieb überlebt hat und anderen Verwaltungsformen wird weichen müssen. Jedenfalls hat die neuere Entwicklung gezeigt, daß gerade in den großen Demokratien Frankreichs, Englands und Amerikas nach den Erfahrungen des Staatsbetriebs während der Kriegszeit wenig Neigung besteht, endgültig zum Staatseisenbahnbetrieb überzugehen; dagegen sind dort eisenbahnpolitische Umgestaltungen im Werke, die die großen privaten Eisenbahngesellschaften der gemeinwirtschaftlichen Organisationsform mehr oder minder nähern sollen. In Holland steht die volle Umbildung der großen Privatgesellschaften in eine gemischtwirtschaftliche Unternehmung unmittelbar bevor. In Deutschland hat diese Unternehmungsform bisher nur bei Verkehrsunternehmungen kleineren Umfangs (Hamburger Walddörferbahn) Eingang gefunden. V. Die finanzielle Selbstverwaltung (Autonomie) der Staatsbahnen. Um die Nachteile, mit denen die fiskalische Verwaltung der Staatseisenbahnen und die enge Verbindung ihrer Finanzwirtschaft mit dem allgemeinen Staatshaushalt verbunden ist, möglichst zu vermeiden, wurde erstmals in der Schweiz und in Italien der Versuch gemacht, dem staatlichen Eisenbahnunternehmen auch im Rahmen der obrigkeitlichen Verwaltung eine selbständige („autonome“) Stellung zu geben. In Italien war der Beweggrund für die Einführung der „Autonomie“ vor allem die Besorgnis, daß die Eisenbahnverwaltung in die politischen Tageskämpfe hineingezogen werden, die Erfüllung ihrer wirtschaftlichen Aufgabe darunter leiden und dem jeweiligen Ministerium ein Machtmittel in die Hand gegeben werden würde, das zur Korrumpierung des öffentlichen Lebens mißbraucht werden könnte; auch sollte die Stetigkeit der Verwaltung von dem häufigen Wechsel der Ministerien möglichst unbeeinflußt bleiben. 1 Der Staat oder die sonst beteiligten öffentlich-rechtlichen Verbände können sich statt dessen auch auf andere Weise einen bestimmenden Einfluß auf das Unternehmen sichern (vgl. zu der Frage Technik und Wirtschaft 1914, S. 835, Deutsche Straßen- und Kleinbahnzeitung 1912, S. 310, 1913, S. 702, 1915, S. 107).

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Zitationshilfe: Röll, [Victor] von (Hrsg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. 2. Aufl. Bd. 10. Berlin, Wien, 1923, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roell_eisenbahnwesen10_1923/174>, abgerufen am 24.11.2024.