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Röll, [Victor] von (Hrsg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. 2. Aufl. Bd. 8. Berlin, Wien, 1917.

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der für die Kriegführung nötigen Geldmittel vorhanden war. Mit Unrecht wurde ihm dies als eine Inkonsequenz vorgeworfen. Aus den höheren Gründen der allgemeinen Staatspolitik hat er in diesem Fall seine eisenbahnpolitischen Grundsätze zurückgestellt. Es bleibt eine geschichtliche Tatsache, daß v. d. Heydt durch seine nachdrückliche und erfolgreiche Tätigkeit den Boden für die Einführung des neuen Staatsbahnsystems in Preußen vorbereitet hat. Unter seinem Nachfolger, dem Grafen Itzenplitz, erhielt das Staatsbahnnetz einen wesentlichen Zuwachs durch die in den 1866 neu erworbenen Landesteilen Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt a. M. belegenen Staatsbahnnetze (1069 km). Während der Amtsführung dieses Ministers, in die die 3 Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 fielen, erfolgte auch der Übergang eines Teiles der Eisenbahnhoheitsrechte auf den norddeutschen Bund, später das Deutsche Reich. Der Kanzler Fürst Bismarck, der schon früher dem Eisenbahnwesen lebhaftes Interesse zugewendet, als Bundestagsgesandter in Frankfurt a. M. und als preußischer Minister viele nützliche Anregungen auch auf diesem Gebiet gegeben hatte, war von Anfang an bemüht, die Hoheitsrechte des Staates nachdrücklich wahrzunehmen, zumeist im Zusammenarbeiten mit dem Handelsminister. Er war damals, im Einverständnis mit dem Handelsminister und dem Finanzminister Camphausen, grundsätzlich ein Anhänger des gemischten Eisenbahnsystems, des Nebeneinanderbestehens von Staatsbahnen und Privatbahnen, bei überwiegendem Einfluß der Staatsbahnen. Der Staat hatte keinen Anlaß, eine lebhafte Tätigkeit im Eisenbahnbau zu entwickeln, und die Privattätigkeit griff nach dem allgemeinen Verkehrsaufschwung nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges wieder lebhafter zum Eisenbahnbau. Der Handelsminister äußerte wiederholt, es komme ihm weniger darauf an, wer Eisenbahnen baue, als daß Eisenbahnen gebaut würden.

Der große Aufschwung des Verkehrs nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges hatte auch zur Folge, daß an die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen besonders hohe Ansprüche gestellt wurden, denen sie zumal mit dem im Krieg stark mitgenommenen Material nicht immer genügen konnten. Die hieraus entstehenden Unzuträglichkeiten ließen sich nicht ohneweiters beseitigen, insbesondere nicht durch Einschreiten der Staatsaufsichtsbehörden. Dazu kamen vielfache Beschwerden über Mißbräuche bei Erteilung und Ausnutzung der Konzessionen der Privatbahnen, über den Tarifwirrwarr, die Zersplitterung des Eisenbahnnetzes, das wilde Gegeneinanderarbeiten der Eisenbahnen u. s. w. Ein dem Landtag am 18. Dezember 1872 vorgelegter Gesetzentwurf, in dem 360 Mill. M. zur Ergänzung, Vervollständigung und besseren Ausrüstung des Staatseisenbahnnetzes, darunter zum Bau einer Staatsbahn von Berlin nach dem Westen der Monarchie gefordert wurden, gab dem Abgeordneten Lasker Anlaß, in 2 Reden, am 15. Januar und am 7. Februar 1873, im Abgeordnetenhaus die im Eisenbahnwesen herrschenden Mißstände zur Sprache zu bringen, deren Untersuchung und Abstellung zu verlangen. Eine auf Antrag der Regierung eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission wurde mit Ermittlungen darüber beauftragt, a) ob und wieweit die einschlägigen Gesetze und Verwaltungsnormen die Erfüllung der bei Erteilung von Eisenbahnkonzessionen beabsichtigten Zwecke zu sichern und das Publikum gegen Täuschungen und Beeinträchtigungen zu schützen geeignet und b) welche Änderungen in der Gesetzgebung und Verwaltungspraxis erforderlich seien, um vorhandenen Übelständen und Mißbräuchen tunlichst abzuhelfen. Nach Beendigung der Beratungen der Kommission reichte Graf Itzenplitz seine Entlassung ein und Dr. Achenbach wurde Handelsminister.

4. In den Jahren 1873-1879 ist der eigentliche Leiter der Eisenbahnpolitik im Deutschen Reich und in Preußen der Fürst Bismarck. Seine Politik wird unterstützt durch die Mehrheit des Staatsministeriums, auch des Handelsministers Achenbach, während der Finanzminister Camphausen sie teils offen, teils heimlich bekämpft. Bismarck gelingt es, durch Ges. vom 27. Juni 1873 eine eigene Reichsbehörde, das Reichseisenbahnamt, zu schaffen, das die dem Reich zustehenden Aufsichtsrechte wahrnehmen und den Entwurf eines Reichseisenbahngesetzes ausarbeiten sollte, in dem die dem Reich zustehenden Befugnisse im einzelnen festzustellen und gegen die Befugnisse der Einzelstaaten abzugrenzen seien. Die in den Jahren 1874, 1875 und 1879 unternommenen Versuche zur Ausarbeitung solcher Gesetzentwürfe sind gescheitert. Den von den Privatbahnen ausgehenden, später von den Regierungen unterstützten Anträgen auf Erhöhung der Eisenbahngütertarife gibt der Reichskanzler nur unter der Bedingung seine Zustimmung, daß für alle deutschen Eisenbahnen ein einheitliches Gütertarif System vereinbart wird. Die darüber in den Jahren 1874 und 1875 veranstalteten Untersuchungen verlaufen ohne Ergebnis. Unter Führung Preußens verständigen sich aber die deutschen Staats- und Privatbahnen im Jahre 1877 über einen einheitlichen deutschen Gütertarif und die organischen Einrichtungen

der für die Kriegführung nötigen Geldmittel vorhanden war. Mit Unrecht wurde ihm dies als eine Inkonsequenz vorgeworfen. Aus den höheren Gründen der allgemeinen Staatspolitik hat er in diesem Fall seine eisenbahnpolitischen Grundsätze zurückgestellt. Es bleibt eine geschichtliche Tatsache, daß v. d. Heydt durch seine nachdrückliche und erfolgreiche Tätigkeit den Boden für die Einführung des neuen Staatsbahnsystems in Preußen vorbereitet hat. Unter seinem Nachfolger, dem Grafen Itzenplitz, erhielt das Staatsbahnnetz einen wesentlichen Zuwachs durch die in den 1866 neu erworbenen Landesteilen Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt a. M. belegenen Staatsbahnnetze (1069 km). Während der Amtsführung dieses Ministers, in die die 3 Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 fielen, erfolgte auch der Übergang eines Teiles der Eisenbahnhoheitsrechte auf den norddeutschen Bund, später das Deutsche Reich. Der Kanzler Fürst Bismarck, der schon früher dem Eisenbahnwesen lebhaftes Interesse zugewendet, als Bundestagsgesandter in Frankfurt a. M. und als preußischer Minister viele nützliche Anregungen auch auf diesem Gebiet gegeben hatte, war von Anfang an bemüht, die Hoheitsrechte des Staates nachdrücklich wahrzunehmen, zumeist im Zusammenarbeiten mit dem Handelsminister. Er war damals, im Einverständnis mit dem Handelsminister und dem Finanzminister Camphausen, grundsätzlich ein Anhänger des gemischten Eisenbahnsystems, des Nebeneinanderbestehens von Staatsbahnen und Privatbahnen, bei überwiegendem Einfluß der Staatsbahnen. Der Staat hatte keinen Anlaß, eine lebhafte Tätigkeit im Eisenbahnbau zu entwickeln, und die Privattätigkeit griff nach dem allgemeinen Verkehrsaufschwung nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges wieder lebhafter zum Eisenbahnbau. Der Handelsminister äußerte wiederholt, es komme ihm weniger darauf an, wer Eisenbahnen baue, als daß Eisenbahnen gebaut würden.

Der große Aufschwung des Verkehrs nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges hatte auch zur Folge, daß an die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen besonders hohe Ansprüche gestellt wurden, denen sie zumal mit dem im Krieg stark mitgenommenen Material nicht immer genügen konnten. Die hieraus entstehenden Unzuträglichkeiten ließen sich nicht ohneweiters beseitigen, insbesondere nicht durch Einschreiten der Staatsaufsichtsbehörden. Dazu kamen vielfache Beschwerden über Mißbräuche bei Erteilung und Ausnutzung der Konzessionen der Privatbahnen, über den Tarifwirrwarr, die Zersplitterung des Eisenbahnnetzes, das wilde Gegeneinanderarbeiten der Eisenbahnen u. s. w. Ein dem Landtag am 18. Dezember 1872 vorgelegter Gesetzentwurf, in dem 360 Mill. M. zur Ergänzung, Vervollständigung und besseren Ausrüstung des Staatseisenbahnnetzes, darunter zum Bau einer Staatsbahn von Berlin nach dem Westen der Monarchie gefordert wurden, gab dem Abgeordneten Lasker Anlaß, in 2 Reden, am 15. Januar und am 7. Februar 1873, im Abgeordnetenhaus die im Eisenbahnwesen herrschenden Mißstände zur Sprache zu bringen, deren Untersuchung und Abstellung zu verlangen. Eine auf Antrag der Regierung eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission wurde mit Ermittlungen darüber beauftragt, a) ob und wieweit die einschlägigen Gesetze und Verwaltungsnormen die Erfüllung der bei Erteilung von Eisenbahnkonzessionen beabsichtigten Zwecke zu sichern und das Publikum gegen Täuschungen und Beeinträchtigungen zu schützen geeignet und b) welche Änderungen in der Gesetzgebung und Verwaltungspraxis erforderlich seien, um vorhandenen Übelständen und Mißbräuchen tunlichst abzuhelfen. Nach Beendigung der Beratungen der Kommission reichte Graf Itzenplitz seine Entlassung ein und Dr. Achenbach wurde Handelsminister.

4. In den Jahren 1873–1879 ist der eigentliche Leiter der Eisenbahnpolitik im Deutschen Reich und in Preußen der Fürst Bismarck. Seine Politik wird unterstützt durch die Mehrheit des Staatsministeriums, auch des Handelsministers Achenbach, während der Finanzminister Camphausen sie teils offen, teils heimlich bekämpft. Bismarck gelingt es, durch Ges. vom 27. Juni 1873 eine eigene Reichsbehörde, das Reichseisenbahnamt, zu schaffen, das die dem Reich zustehenden Aufsichtsrechte wahrnehmen und den Entwurf eines Reichseisenbahngesetzes ausarbeiten sollte, in dem die dem Reich zustehenden Befugnisse im einzelnen festzustellen und gegen die Befugnisse der Einzelstaaten abzugrenzen seien. Die in den Jahren 1874, 1875 und 1879 unternommenen Versuche zur Ausarbeitung solcher Gesetzentwürfe sind gescheitert. Den von den Privatbahnen ausgehenden, später von den Regierungen unterstützten Anträgen auf Erhöhung der Eisenbahngütertarife gibt der Reichskanzler nur unter der Bedingung seine Zustimmung, daß für alle deutschen Eisenbahnen ein einheitliches Gütertarif System vereinbart wird. Die darüber in den Jahren 1874 und 1875 veranstalteten Untersuchungen verlaufen ohne Ergebnis. Unter Führung Preußens verständigen sich aber die deutschen Staats- und Privatbahnen im Jahre 1877 über einen einheitlichen deutschen Gütertarif und die organischen Einrichtungen

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[120/0133] der für die Kriegführung nötigen Geldmittel vorhanden war. Mit Unrecht wurde ihm dies als eine Inkonsequenz vorgeworfen. Aus den höheren Gründen der allgemeinen Staatspolitik hat er in diesem Fall seine eisenbahnpolitischen Grundsätze zurückgestellt. Es bleibt eine geschichtliche Tatsache, daß v. d. Heydt durch seine nachdrückliche und erfolgreiche Tätigkeit den Boden für die Einführung des neuen Staatsbahnsystems in Preußen vorbereitet hat. Unter seinem Nachfolger, dem Grafen Itzenplitz, erhielt das Staatsbahnnetz einen wesentlichen Zuwachs durch die in den 1866 neu erworbenen Landesteilen Hannover, Kurhessen, Nassau und Frankfurt a. M. belegenen Staatsbahnnetze (1069 km). Während der Amtsführung dieses Ministers, in die die 3 Kriege von 1864, 1866 und 1870/71 fielen, erfolgte auch der Übergang eines Teiles der Eisenbahnhoheitsrechte auf den norddeutschen Bund, später das Deutsche Reich. Der Kanzler Fürst Bismarck, der schon früher dem Eisenbahnwesen lebhaftes Interesse zugewendet, als Bundestagsgesandter in Frankfurt a. M. und als preußischer Minister viele nützliche Anregungen auch auf diesem Gebiet gegeben hatte, war von Anfang an bemüht, die Hoheitsrechte des Staates nachdrücklich wahrzunehmen, zumeist im Zusammenarbeiten mit dem Handelsminister. Er war damals, im Einverständnis mit dem Handelsminister und dem Finanzminister Camphausen, grundsätzlich ein Anhänger des gemischten Eisenbahnsystems, des Nebeneinanderbestehens von Staatsbahnen und Privatbahnen, bei überwiegendem Einfluß der Staatsbahnen. Der Staat hatte keinen Anlaß, eine lebhafte Tätigkeit im Eisenbahnbau zu entwickeln, und die Privattätigkeit griff nach dem allgemeinen Verkehrsaufschwung nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges wieder lebhafter zum Eisenbahnbau. Der Handelsminister äußerte wiederholt, es komme ihm weniger darauf an, wer Eisenbahnen baue, als daß Eisenbahnen gebaut würden. Der große Aufschwung des Verkehrs nach Beendigung des deutsch-französischen Krieges hatte auch zur Folge, daß an die Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen besonders hohe Ansprüche gestellt wurden, denen sie zumal mit dem im Krieg stark mitgenommenen Material nicht immer genügen konnten. Die hieraus entstehenden Unzuträglichkeiten ließen sich nicht ohneweiters beseitigen, insbesondere nicht durch Einschreiten der Staatsaufsichtsbehörden. Dazu kamen vielfache Beschwerden über Mißbräuche bei Erteilung und Ausnutzung der Konzessionen der Privatbahnen, über den Tarifwirrwarr, die Zersplitterung des Eisenbahnnetzes, das wilde Gegeneinanderarbeiten der Eisenbahnen u. s. w. Ein dem Landtag am 18. Dezember 1872 vorgelegter Gesetzentwurf, in dem 360 Mill. M. zur Ergänzung, Vervollständigung und besseren Ausrüstung des Staatseisenbahnnetzes, darunter zum Bau einer Staatsbahn von Berlin nach dem Westen der Monarchie gefordert wurden, gab dem Abgeordneten Lasker Anlaß, in 2 Reden, am 15. Januar und am 7. Februar 1873, im Abgeordnetenhaus die im Eisenbahnwesen herrschenden Mißstände zur Sprache zu bringen, deren Untersuchung und Abstellung zu verlangen. Eine auf Antrag der Regierung eingesetzte parlamentarische Untersuchungskommission wurde mit Ermittlungen darüber beauftragt, a) ob und wieweit die einschlägigen Gesetze und Verwaltungsnormen die Erfüllung der bei Erteilung von Eisenbahnkonzessionen beabsichtigten Zwecke zu sichern und das Publikum gegen Täuschungen und Beeinträchtigungen zu schützen geeignet und b) welche Änderungen in der Gesetzgebung und Verwaltungspraxis erforderlich seien, um vorhandenen Übelständen und Mißbräuchen tunlichst abzuhelfen. Nach Beendigung der Beratungen der Kommission reichte Graf Itzenplitz seine Entlassung ein und Dr. Achenbach wurde Handelsminister. 4. In den Jahren 1873–1879 ist der eigentliche Leiter der Eisenbahnpolitik im Deutschen Reich und in Preußen der Fürst Bismarck. Seine Politik wird unterstützt durch die Mehrheit des Staatsministeriums, auch des Handelsministers Achenbach, während der Finanzminister Camphausen sie teils offen, teils heimlich bekämpft. Bismarck gelingt es, durch Ges. vom 27. Juni 1873 eine eigene Reichsbehörde, das Reichseisenbahnamt, zu schaffen, das die dem Reich zustehenden Aufsichtsrechte wahrnehmen und den Entwurf eines Reichseisenbahngesetzes ausarbeiten sollte, in dem die dem Reich zustehenden Befugnisse im einzelnen festzustellen und gegen die Befugnisse der Einzelstaaten abzugrenzen seien. Die in den Jahren 1874, 1875 und 1879 unternommenen Versuche zur Ausarbeitung solcher Gesetzentwürfe sind gescheitert. Den von den Privatbahnen ausgehenden, später von den Regierungen unterstützten Anträgen auf Erhöhung der Eisenbahngütertarife gibt der Reichskanzler nur unter der Bedingung seine Zustimmung, daß für alle deutschen Eisenbahnen ein einheitliches Gütertarif System vereinbart wird. Die darüber in den Jahren 1874 und 1875 veranstalteten Untersuchungen verlaufen ohne Ergebnis. Unter Führung Preußens verständigen sich aber die deutschen Staats- und Privatbahnen im Jahre 1877 über einen einheitlichen deutschen Gütertarif und die organischen Einrichtungen

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Zitationshilfe: Röll, [Victor] von (Hrsg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. 2. Aufl. Bd. 8. Berlin, Wien, 1917, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roell_eisenbahnwesen08_1917/133>, abgerufen am 25.11.2024.