Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Röll, [Victor] von (Hrsg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. 2. Aufl. Bd. 5. Berlin, Wien, 1914.

Bild:
<< vorherige Seite

Eisenbahnen unterstützt, indem sie für die geringwertigen Güter niedrigere Transportpreise bewilligten; so erwuchsen aus den anfänglich einfachen Tarifen infolge der Berücksichtigung der neuen Güter und der zahllosen Anträge der Verfrachter auf Frachtermäßigung immer neue Wertklassen und Ausnahmetarife bald für dieses, bald für jenes Gut. Noch verwickelter wurden diese Verhältnisse mit der Einführung der direkten und Verbandtarife, da sich diese in der Regel aus den verschiedenen Klassen und Klassifikationen der beteiligten Bahnen zusammensetzten.

Mit dem dichter werdenden Eisenbahnnetz und Eisenbahnverkehr entstanden aber nicht nur immer mehr solcher direkten und Verbandtarife mit verschiedenen Klassifikationen, sondern die Verbände griffen gegenseitig in ihre Gebiete über und machten sich Wettbewerb in den Knotenpunkten. Daraus folgte dann ein fortwährender Wechsel in der Klassifikation und den Sätzen, eine Unsicherheit und Verwirrung des ganzen Tarifwesens, so daß nicht nur das Publikum, sondern selbst die Eisenbahnbeamten in den Tarifen sich nicht mehr mit Sicherheit zurechtfanden, zahlreiche Reklamationen hervorgerufen und die Kontrolle und Abrechnung der angewendeten Frachtsätze auf das Äußerste erschwert wurden.

Wenn die Tarifverwirrung ihren höchsten Grad erreichte und selbst für die Interessen der Eisenbahnen schädlich wirkte und der Ruf nach Reform allgemein wurde, dann gingen unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der Aufsichtsbehörden die Eisenbahnen dazu über, eine formale Einheit durch Annahme eines gemeinsamen Tarifsystems und einer einheitlichen Klassifikation zu schaffen und so wenigstens einen Teil dieser Übelstände, u. zw. gerade den zu beseitigen, der sich auch für die Eisenbahnen selbst schädlich fühlbar machte. Verschieden von dieser formalen Einheit, der Einheit des Tarifsystems und der Klassifikation, ist aber die materielle Tarifeinheit, die durch die Einrechnung gleicher Einheitssätze in die Tarife, durch wesentliche Beschränkung der Ausnahmetarife und gänzlichen Wegfall der Refaktien bedingt wird. Nur so kann eine gerechte und gleichmäßige Festsetzung der Tarife erreicht werden. Das beweisen die Tarifverhältnisse in allen jenen Ländern, wo die Eisenbahnen zwar ein gemeinsames Tarifsystem und gleiche Klassifikation haben, in der Festsetzung ihrer Einheitssätze und in der Einführung von Ausnahmetarifen aber unbeschränkt sind.

Diese materielle Tarifeinheit kann unter der Herrschaft der Privatbahnen oder bei einer privatwirtschaftlichen Verwaltung der Eisenbahnen überhaupt nicht erreicht werden. Die Individualisierung und Verschiedenheit in den Einheitssätzen, die Schaffung zahlreicher Ausnahmetarife, die Gewährung von Refaktien für größere Verfrachter liegt im Wesen und Interesse der privatwirtschaftlichen Eisenbahnverwaltung; diese ist deshalb nicht auf eine Beschränkung, sondern auf eine größere Ausdehnung in dieser Richtung bedacht. Da, wo sie nicht darin verhindert wird, geht im Gegenteil die privatwirtschaftliche Tarifgestaltung in ihrer Entwicklung soweit, daß die Ausnahmetarife und Refaktien fast die Regel bilden, für alle einigermaßen erheblichen Transporte die Frachtsätze besonders festgesetzt oder vereinbart werden, die allgemeinen Tarife nur für die kleineren Verfrachter und für die Aufsichtsbehörden bestehen; und dies ist die letzte Folge des privatwirtschaftlichen Tarifprinzips, die Feststellung des Preises jeder einzelnen größeren Leistung der Eisenbahnen nach ihrem Wert für den Empfänger oder nach dessen Zahlungsfähigkeit.

Aus dieser Entwicklung der privatwirtschaftlichen Tarifgestaltung entsteht aber eine ganze Reihe schwerer wirtschaftlicher Nachteile:

a) Die ungleichmäßige und ungerechte Festsetzung der Beförderungspreise schädigt zahlreiche Orte, Gegenden, Industrien, Handelszweige und sehr häufig insbesondere die inländische Landwirtschaft, wie denn überhaupt der örtliche und inländische Verkehr meist mit höheren Transportpreisen belegt wird, als der direkte, ausländische Ein- und Durchfuhrverkehr und auf diese Weise dieser jenem gegenüber begünstigt ist. Oft führt die willkürliche und ungleichmäßige Tarifierung eine künstliche Verschiebung der wirtschaftlichen Verhältnisse herbei, eine Erzeugung künstlicher und Vernichtung natürlich gewachsener Industrien; ferner wird in der Regel hierdurch Großhandel und Großbetrieb zum Nachteil des Klein- und Zwischenhandels und des Kleinbetriebs begünstigt, das ungesunde Anwachsen der großen Städte befördert und mit dazu beigetragen, daß schwindelhafte Aufschwungsperioden mit schweren wirtschaftlichen Krisen wechseln.

b) Die Unsicherheit in den Frachtverhältnissen, die durch den häufigen Wechsel und die fortwährenden Änderungen in der Klassifikation und den Einheitssätzen sowie durch die zahlreichen Ausnahmetarife herbeigeführt wird, gefährdet auch Ruhe und Sicherheit in Handel und Gewerbe, reizt zu betrügerischen Umgehungen der Tarife und wirkt so entsittlichend auf die Verkehrstreibenden und Eisenbahnbeamten.

Eisenbahnen unterstützt, indem sie für die geringwertigen Güter niedrigere Transportpreise bewilligten; so erwuchsen aus den anfänglich einfachen Tarifen infolge der Berücksichtigung der neuen Güter und der zahllosen Anträge der Verfrachter auf Frachtermäßigung immer neue Wertklassen und Ausnahmetarife bald für dieses, bald für jenes Gut. Noch verwickelter wurden diese Verhältnisse mit der Einführung der direkten und Verbandtarife, da sich diese in der Regel aus den verschiedenen Klassen und Klassifikationen der beteiligten Bahnen zusammensetzten.

Mit dem dichter werdenden Eisenbahnnetz und Eisenbahnverkehr entstanden aber nicht nur immer mehr solcher direkten und Verbandtarife mit verschiedenen Klassifikationen, sondern die Verbände griffen gegenseitig in ihre Gebiete über und machten sich Wettbewerb in den Knotenpunkten. Daraus folgte dann ein fortwährender Wechsel in der Klassifikation und den Sätzen, eine Unsicherheit und Verwirrung des ganzen Tarifwesens, so daß nicht nur das Publikum, sondern selbst die Eisenbahnbeamten in den Tarifen sich nicht mehr mit Sicherheit zurechtfanden, zahlreiche Reklamationen hervorgerufen und die Kontrolle und Abrechnung der angewendeten Frachtsätze auf das Äußerste erschwert wurden.

Wenn die Tarifverwirrung ihren höchsten Grad erreichte und selbst für die Interessen der Eisenbahnen schädlich wirkte und der Ruf nach Reform allgemein wurde, dann gingen unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der Aufsichtsbehörden die Eisenbahnen dazu über, eine formale Einheit durch Annahme eines gemeinsamen Tarifsystems und einer einheitlichen Klassifikation zu schaffen und so wenigstens einen Teil dieser Übelstände, u. zw. gerade den zu beseitigen, der sich auch für die Eisenbahnen selbst schädlich fühlbar machte. Verschieden von dieser formalen Einheit, der Einheit des Tarifsystems und der Klassifikation, ist aber die materielle Tarifeinheit, die durch die Einrechnung gleicher Einheitssätze in die Tarife, durch wesentliche Beschränkung der Ausnahmetarife und gänzlichen Wegfall der Refaktien bedingt wird. Nur so kann eine gerechte und gleichmäßige Festsetzung der Tarife erreicht werden. Das beweisen die Tarifverhältnisse in allen jenen Ländern, wo die Eisenbahnen zwar ein gemeinsames Tarifsystem und gleiche Klassifikation haben, in der Festsetzung ihrer Einheitssätze und in der Einführung von Ausnahmetarifen aber unbeschränkt sind.

Diese materielle Tarifeinheit kann unter der Herrschaft der Privatbahnen oder bei einer privatwirtschaftlichen Verwaltung der Eisenbahnen überhaupt nicht erreicht werden. Die Individualisierung und Verschiedenheit in den Einheitssätzen, die Schaffung zahlreicher Ausnahmetarife, die Gewährung von Refaktien für größere Verfrachter liegt im Wesen und Interesse der privatwirtschaftlichen Eisenbahnverwaltung; diese ist deshalb nicht auf eine Beschränkung, sondern auf eine größere Ausdehnung in dieser Richtung bedacht. Da, wo sie nicht darin verhindert wird, geht im Gegenteil die privatwirtschaftliche Tarifgestaltung in ihrer Entwicklung soweit, daß die Ausnahmetarife und Refaktien fast die Regel bilden, für alle einigermaßen erheblichen Transporte die Frachtsätze besonders festgesetzt oder vereinbart werden, die allgemeinen Tarife nur für die kleineren Verfrachter und für die Aufsichtsbehörden bestehen; und dies ist die letzte Folge des privatwirtschaftlichen Tarifprinzips, die Feststellung des Preises jeder einzelnen größeren Leistung der Eisenbahnen nach ihrem Wert für den Empfänger oder nach dessen Zahlungsfähigkeit.

Aus dieser Entwicklung der privatwirtschaftlichen Tarifgestaltung entsteht aber eine ganze Reihe schwerer wirtschaftlicher Nachteile:

a) Die ungleichmäßige und ungerechte Festsetzung der Beförderungspreise schädigt zahlreiche Orte, Gegenden, Industrien, Handelszweige und sehr häufig insbesondere die inländische Landwirtschaft, wie denn überhaupt der örtliche und inländische Verkehr meist mit höheren Transportpreisen belegt wird, als der direkte, ausländische Ein- und Durchfuhrverkehr und auf diese Weise dieser jenem gegenüber begünstigt ist. Oft führt die willkürliche und ungleichmäßige Tarifierung eine künstliche Verschiebung der wirtschaftlichen Verhältnisse herbei, eine Erzeugung künstlicher und Vernichtung natürlich gewachsener Industrien; ferner wird in der Regel hierdurch Großhandel und Großbetrieb zum Nachteil des Klein- und Zwischenhandels und des Kleinbetriebs begünstigt, das ungesunde Anwachsen der großen Städte befördert und mit dazu beigetragen, daß schwindelhafte Aufschwungsperioden mit schweren wirtschaftlichen Krisen wechseln.

b) Die Unsicherheit in den Frachtverhältnissen, die durch den häufigen Wechsel und die fortwährenden Änderungen in der Klassifikation und den Einheitssätzen sowie durch die zahlreichen Ausnahmetarife herbeigeführt wird, gefährdet auch Ruhe und Sicherheit in Handel und Gewerbe, reizt zu betrügerischen Umgehungen der Tarife und wirkt so entsittlichend auf die Verkehrstreibenden und Eisenbahnbeamten.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div type="lexiconEntry" n="2">
          <p><pb facs="#f0477" n="465"/>
Eisenbahnen unterstützt, indem sie für die geringwertigen Güter niedrigere Transportpreise bewilligten; so erwuchsen aus den anfänglich einfachen Tarifen infolge der Berücksichtigung der neuen Güter und der zahllosen Anträge der Verfrachter auf Frachtermäßigung immer neue Wertklassen und Ausnahmetarife bald für dieses, bald für jenes Gut. Noch verwickelter wurden diese Verhältnisse mit der Einführung der direkten und Verbandtarife, da sich diese in der Regel aus den verschiedenen Klassen und Klassifikationen der beteiligten Bahnen zusammensetzten.</p><lb/>
          <p>Mit dem dichter werdenden Eisenbahnnetz und Eisenbahnverkehr entstanden aber nicht nur immer mehr solcher direkten und Verbandtarife mit verschiedenen Klassifikationen, sondern die Verbände griffen gegenseitig in ihre Gebiete über und machten sich Wettbewerb in den Knotenpunkten. Daraus folgte dann ein fortwährender Wechsel in der Klassifikation und den Sätzen, eine Unsicherheit und Verwirrung des ganzen Tarifwesens, so daß nicht nur das Publikum, sondern selbst die Eisenbahnbeamten in den Tarifen sich nicht mehr mit Sicherheit zurechtfanden, zahlreiche Reklamationen hervorgerufen und die Kontrolle und Abrechnung der angewendeten Frachtsätze auf das Äußerste erschwert wurden.</p><lb/>
          <p>Wenn die Tarifverwirrung ihren höchsten Grad erreichte und selbst für die Interessen der Eisenbahnen schädlich wirkte und der Ruf nach Reform allgemein wurde, dann gingen unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der Aufsichtsbehörden die Eisenbahnen dazu über, eine formale Einheit durch Annahme eines gemeinsamen Tarifsystems und einer einheitlichen Klassifikation zu schaffen und so wenigstens einen Teil dieser Übelstände, u. zw. gerade den zu beseitigen, der sich auch für die Eisenbahnen selbst schädlich fühlbar machte. Verschieden von dieser formalen Einheit, der Einheit des Tarifsystems und der Klassifikation, ist aber die materielle Tarifeinheit, die durch die Einrechnung gleicher Einheitssätze in die Tarife, durch wesentliche Beschränkung der Ausnahmetarife und gänzlichen Wegfall der Refaktien bedingt wird. Nur so kann eine gerechte und gleichmäßige Festsetzung der Tarife erreicht werden. Das beweisen die Tarifverhältnisse in allen jenen Ländern, wo die Eisenbahnen zwar ein gemeinsames Tarifsystem und gleiche Klassifikation haben, in der Festsetzung ihrer Einheitssätze und in der Einführung von Ausnahmetarifen aber unbeschränkt sind.</p><lb/>
          <p>Diese materielle Tarifeinheit kann unter der Herrschaft der Privatbahnen oder bei einer privatwirtschaftlichen Verwaltung der Eisenbahnen überhaupt nicht erreicht werden. Die Individualisierung und Verschiedenheit in den Einheitssätzen, die Schaffung zahlreicher Ausnahmetarife, die Gewährung von Refaktien für größere Verfrachter liegt im Wesen und Interesse der privatwirtschaftlichen Eisenbahnverwaltung; diese ist deshalb nicht auf eine Beschränkung, sondern auf eine größere Ausdehnung in dieser Richtung bedacht. Da, wo sie nicht darin verhindert wird, geht im Gegenteil die privatwirtschaftliche Tarifgestaltung in ihrer Entwicklung soweit, daß die Ausnahmetarife und Refaktien fast die Regel bilden, für alle einigermaßen erheblichen Transporte die Frachtsätze besonders festgesetzt oder vereinbart werden, die allgemeinen Tarife nur für die kleineren Verfrachter und für die Aufsichtsbehörden bestehen; und dies ist die letzte Folge des privatwirtschaftlichen Tarifprinzips, die Feststellung des Preises jeder einzelnen größeren Leistung der Eisenbahnen nach ihrem Wert für den Empfänger oder nach dessen Zahlungsfähigkeit.</p><lb/>
          <p>Aus dieser Entwicklung der privatwirtschaftlichen Tarifgestaltung entsteht aber eine ganze Reihe schwerer wirtschaftlicher Nachteile:</p><lb/>
          <p><hi rendition="#i">a)</hi> Die ungleichmäßige und ungerechte Festsetzung der Beförderungspreise schädigt zahlreiche Orte, Gegenden, Industrien, Handelszweige und sehr häufig insbesondere die inländische Landwirtschaft, wie denn überhaupt der örtliche und inländische Verkehr meist mit höheren Transportpreisen belegt wird, als der direkte, ausländische Ein- und Durchfuhrverkehr und auf diese Weise dieser jenem gegenüber begünstigt ist. Oft führt die willkürliche und ungleichmäßige Tarifierung eine künstliche Verschiebung der wirtschaftlichen Verhältnisse herbei, eine Erzeugung künstlicher und Vernichtung natürlich gewachsener Industrien; ferner wird in der Regel hierdurch Großhandel und Großbetrieb zum Nachteil des Klein- und Zwischenhandels und des Kleinbetriebs begünstigt, das ungesunde Anwachsen der großen Städte befördert und mit dazu beigetragen, daß schwindelhafte Aufschwungsperioden mit schweren wirtschaftlichen Krisen wechseln.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#i">b)</hi> Die Unsicherheit in den Frachtverhältnissen, die durch den häufigen Wechsel und die fortwährenden Änderungen in der Klassifikation und den Einheitssätzen sowie durch die zahlreichen Ausnahmetarife herbeigeführt wird, gefährdet auch Ruhe und Sicherheit in Handel und Gewerbe, reizt zu betrügerischen Umgehungen der Tarife und wirkt so entsittlichend auf die Verkehrstreibenden und Eisenbahnbeamten.
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[465/0477] Eisenbahnen unterstützt, indem sie für die geringwertigen Güter niedrigere Transportpreise bewilligten; so erwuchsen aus den anfänglich einfachen Tarifen infolge der Berücksichtigung der neuen Güter und der zahllosen Anträge der Verfrachter auf Frachtermäßigung immer neue Wertklassen und Ausnahmetarife bald für dieses, bald für jenes Gut. Noch verwickelter wurden diese Verhältnisse mit der Einführung der direkten und Verbandtarife, da sich diese in der Regel aus den verschiedenen Klassen und Klassifikationen der beteiligten Bahnen zusammensetzten. Mit dem dichter werdenden Eisenbahnnetz und Eisenbahnverkehr entstanden aber nicht nur immer mehr solcher direkten und Verbandtarife mit verschiedenen Klassifikationen, sondern die Verbände griffen gegenseitig in ihre Gebiete über und machten sich Wettbewerb in den Knotenpunkten. Daraus folgte dann ein fortwährender Wechsel in der Klassifikation und den Sätzen, eine Unsicherheit und Verwirrung des ganzen Tarifwesens, so daß nicht nur das Publikum, sondern selbst die Eisenbahnbeamten in den Tarifen sich nicht mehr mit Sicherheit zurechtfanden, zahlreiche Reklamationen hervorgerufen und die Kontrolle und Abrechnung der angewendeten Frachtsätze auf das Äußerste erschwert wurden. Wenn die Tarifverwirrung ihren höchsten Grad erreichte und selbst für die Interessen der Eisenbahnen schädlich wirkte und der Ruf nach Reform allgemein wurde, dann gingen unter dem Druck der öffentlichen Meinung und der Aufsichtsbehörden die Eisenbahnen dazu über, eine formale Einheit durch Annahme eines gemeinsamen Tarifsystems und einer einheitlichen Klassifikation zu schaffen und so wenigstens einen Teil dieser Übelstände, u. zw. gerade den zu beseitigen, der sich auch für die Eisenbahnen selbst schädlich fühlbar machte. Verschieden von dieser formalen Einheit, der Einheit des Tarifsystems und der Klassifikation, ist aber die materielle Tarifeinheit, die durch die Einrechnung gleicher Einheitssätze in die Tarife, durch wesentliche Beschränkung der Ausnahmetarife und gänzlichen Wegfall der Refaktien bedingt wird. Nur so kann eine gerechte und gleichmäßige Festsetzung der Tarife erreicht werden. Das beweisen die Tarifverhältnisse in allen jenen Ländern, wo die Eisenbahnen zwar ein gemeinsames Tarifsystem und gleiche Klassifikation haben, in der Festsetzung ihrer Einheitssätze und in der Einführung von Ausnahmetarifen aber unbeschränkt sind. Diese materielle Tarifeinheit kann unter der Herrschaft der Privatbahnen oder bei einer privatwirtschaftlichen Verwaltung der Eisenbahnen überhaupt nicht erreicht werden. Die Individualisierung und Verschiedenheit in den Einheitssätzen, die Schaffung zahlreicher Ausnahmetarife, die Gewährung von Refaktien für größere Verfrachter liegt im Wesen und Interesse der privatwirtschaftlichen Eisenbahnverwaltung; diese ist deshalb nicht auf eine Beschränkung, sondern auf eine größere Ausdehnung in dieser Richtung bedacht. Da, wo sie nicht darin verhindert wird, geht im Gegenteil die privatwirtschaftliche Tarifgestaltung in ihrer Entwicklung soweit, daß die Ausnahmetarife und Refaktien fast die Regel bilden, für alle einigermaßen erheblichen Transporte die Frachtsätze besonders festgesetzt oder vereinbart werden, die allgemeinen Tarife nur für die kleineren Verfrachter und für die Aufsichtsbehörden bestehen; und dies ist die letzte Folge des privatwirtschaftlichen Tarifprinzips, die Feststellung des Preises jeder einzelnen größeren Leistung der Eisenbahnen nach ihrem Wert für den Empfänger oder nach dessen Zahlungsfähigkeit. Aus dieser Entwicklung der privatwirtschaftlichen Tarifgestaltung entsteht aber eine ganze Reihe schwerer wirtschaftlicher Nachteile: a) Die ungleichmäßige und ungerechte Festsetzung der Beförderungspreise schädigt zahlreiche Orte, Gegenden, Industrien, Handelszweige und sehr häufig insbesondere die inländische Landwirtschaft, wie denn überhaupt der örtliche und inländische Verkehr meist mit höheren Transportpreisen belegt wird, als der direkte, ausländische Ein- und Durchfuhrverkehr und auf diese Weise dieser jenem gegenüber begünstigt ist. Oft führt die willkürliche und ungleichmäßige Tarifierung eine künstliche Verschiebung der wirtschaftlichen Verhältnisse herbei, eine Erzeugung künstlicher und Vernichtung natürlich gewachsener Industrien; ferner wird in der Regel hierdurch Großhandel und Großbetrieb zum Nachteil des Klein- und Zwischenhandels und des Kleinbetriebs begünstigt, das ungesunde Anwachsen der großen Städte befördert und mit dazu beigetragen, daß schwindelhafte Aufschwungsperioden mit schweren wirtschaftlichen Krisen wechseln. b) Die Unsicherheit in den Frachtverhältnissen, die durch den häufigen Wechsel und die fortwährenden Änderungen in der Klassifikation und den Einheitssätzen sowie durch die zahlreichen Ausnahmetarife herbeigeführt wird, gefährdet auch Ruhe und Sicherheit in Handel und Gewerbe, reizt zu betrügerischen Umgehungen der Tarife und wirkt so entsittlichend auf die Verkehrstreibenden und Eisenbahnbeamten.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

zeno.org – Contumax GmbH & Co. KG: Bereitstellung der Texttranskription. (2020-06-17T17:32:45Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Andreas Nolda: Bearbeitung der digitalen Edition. (2020-06-17T17:32:45Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): gekennzeichnet; Hervorhebungen I/J in Fraktur: keine Angabe; i/j in Fraktur: keine Angabe; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): keine Angabe; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: keine Angabe; Zeichensetzung: keine Angabe; Zeilenumbrüche markiert: nein

Spaltenumbrüche sind nicht markiert. Wiederholungszeichen (") wurden aufgelöst. Komplexe Formeln und Tabellen sind als Grafiken wiedergegeben.

Die Abbildungen im Text stammen von zeno.org – Contumax GmbH & Co. KG.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/roell_eisenbahnwesen05_1914
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/roell_eisenbahnwesen05_1914/477
Zitationshilfe: Röll, [Victor] von (Hrsg.): Enzyklopädie des Eisenbahnwesens. 2. Aufl. Bd. 5. Berlin, Wien, 1914, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/roell_eisenbahnwesen05_1914/477>, abgerufen am 25.11.2024.