Denn, lieben Kinder! wenn ein jeder sei- nen Nutzen vorziehen dürfte, so ließen die Aeltern ihre kranken Kinder verhungern, die ihnen nichts, als Kummer machen; die Er- wachsenen schlügen ihre alten Aeltern todt, weil sie nicht mehr Brodt verdienen können; der Faule nähme dem Fleißigen sein Brodt mit Gewalt; und keiner wäre einen Augen- blick, des Seinigen sicher.
Aber, die Dinge, die mit einander in Verhältniß stehen, wirken auch, wechsels- weise, auf einander, und erhalten sich, durch gemeinschaftliche Kräfte. Daher kommts, lieben Kinder! daß viel Leute mehr thun kön- nen, als einer allein.
Es war einmal ein Dorf, voll böser Bau- ern, die in Feindschaft mit einander lebten. An ihrem Acker floß ein Strom, der einst überlief, und den Damm durchbrach. Des einen Bauern Acker lag gerade bey dem Lo- che des Damms, und litte großen Schaden. Er that sein Möglichstes, um das Loch im Damme zu stopfen: aber es war, für eine Familie, zu viel Arbeit; Und die andern wollten ihm nicht helfen, weil es ihnen noch keinen Schaden brachte, und keiner des an- dern Freund war, oder das gemeine Beste suchte. Endlich ward das Loch so breit, und
so
Denn, lieben Kinder! wenn ein jeder ſei- nen Nutzen vorziehen duͤrfte, ſo ließen die Aeltern ihre kranken Kinder verhungern, die ihnen nichts, als Kummer machen; die Er- wachſenen ſchluͤgen ihre alten Aeltern todt, weil ſie nicht mehr Brodt verdienen koͤnnen; der Faule naͤhme dem Fleißigen ſein Brodt mit Gewalt; und keiner waͤre einen Augen- blick, des Seinigen ſicher.
Aber, die Dinge, die mit einander in Verhaͤltniß ſtehen, wirken auch, wechſels- weiſe, auf einander, und erhalten ſich, durch gemeinſchaftliche Kraͤfte. Daher kommts, lieben Kinder! daß viel Leute mehr thun koͤn- nen, als einer allein.
Es war einmal ein Dorf, voll boͤſer Bau- ern, die in Feindſchaft mit einander lebten. An ihrem Acker floß ein Strom, der einſt uͤberlief, und den Damm durchbrach. Des einen Bauern Acker lag gerade bey dem Lo- che des Damms, und litte großen Schaden. Er that ſein Moͤglichſtes, um das Loch im Damme zu ſtopfen: aber es war, fuͤr eine Familie, zu viel Arbeit; Und die andern wollten ihm nicht helfen, weil es ihnen noch keinen Schaden brachte, und keiner des an- dern Freund war, oder das gemeine Beſte ſuchte. Endlich ward das Loch ſo breit, und
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Denn, lieben Kinder! wenn ein jeder ſei-
nen Nutzen vorziehen duͤrfte, ſo ließen die
Aeltern ihre kranken Kinder verhungern, die
ihnen nichts, als Kummer machen; die Er-
wachſenen ſchluͤgen ihre alten Aeltern todt,
weil ſie nicht mehr Brodt verdienen koͤnnen;
der Faule naͤhme dem Fleißigen ſein Brodt
mit Gewalt; und keiner waͤre einen Augen-
blick, des Seinigen ſicher.
Aber, die Dinge, die mit einander in
Verhaͤltniß ſtehen, wirken auch, wechſels-
weiſe, auf einander, und erhalten ſich, durch
gemeinſchaftliche Kraͤfte. Daher kommts,
lieben Kinder! daß viel Leute mehr thun koͤn-
nen, als einer allein.
Es war einmal ein Dorf, voll boͤſer Bau-
ern, die in Feindſchaft mit einander lebten.
An ihrem Acker floß ein Strom, der einſt
uͤberlief, und den Damm durchbrach. Des
einen Bauern Acker lag gerade bey dem Lo-
che des Damms, und litte großen Schaden.
Er that ſein Moͤglichſtes, um das Loch im
Damme zu ſtopfen: aber es war, fuͤr eine
Familie, zu viel Arbeit; Und die andern
wollten ihm nicht helfen, weil es ihnen noch
keinen Schaden brachte, und keiner des an-
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[Rochow, Friedrich Eberhard von]: Versuch eines Schulbuches. Berlin, 1772, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rochow_versuch_1772/102>, abgerufen am 17.07.2024.
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