bei Brygos deckt sie seine Flucht, indem sie sich mit männ- licher Kühnheit dem andringenden Menelaos entgegenwirft; beides wahrlich nicht im Widerspruch, sondern im schönsten Einklang mit dem Charakter von Hektors Weibe, dessen her- vorstechendster Zug, neben der hingebenden Liebe zum Gatten, die aufopferndste Mutterliebe ist, in Troja wie in Phthia, bei Homer wie bei Euripides.
Die Frage nach der hier zu Grunde liegenden poetischen Quelle kann zwar erst unten in grösserem Zusammenhange er- ledigt werden, doch scheint es nicht überflüssig gleich hier dar- auf hinzuweisen, dass es unnötig oder vielmehr im höchsten Grade verkehrt wäre, für diese kleine Verschiedenheit in dem Auf- treten Andromaches auch eine Verschiedenheit der poetischen Quellen anzunehmen. Lediglich in der verschiedenen Weise, in welcher Brygos und der Maler der Vivenziovase diesen Vorgang mit anderen Episoden der Iliupersis, speciell mit dem Tode des Priamos, combiniert haben, hat dieselbe ihren Grund. Ge- geben war in der poetischen Quelle und der durch sie beein- flussten Sagenanschauung der Zeit, dass Menelaos den Deiphobos tötet, gegeben ohne Zweifel auch, dass er dabei oder kurz nach- her von Andromache mit der einzigen ihr in der Hast zu Ge- bote stehenden Waffe, einer Mörserkeule, angegriffen wird. Ob dies aber bei dem Dichter geschah, bevor oder nachdem Neopto- lemos den Astyanax ergriffen hatte, ob zum Schutz, wie auf der Brygosschale, oder zur Rettung, wie auf der Vivenziovase, lässt sich aus den Bildwerken und, wie gleich hinzugefügt werden mag, mit unserem Material überhaupt nicht entscheiden.
Die fliehende Frau darf nun unbedenklich Helena benannt werden; schon der Vergleich der Berliner Amphora wäre für die Richtigkeit dieser Benennung beweisend; aber deutlich spricht dafür auch die vortreffliche Charakteristik der Figur; mit aufge- löstem Haar eilt sie hinweg, den Blick starr auf den hinsinken- den Deiphobos und auf ihren ersten treulos verlassenen Gatten gerichtet. Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade in der Zeit des Brygos in der rotfigurigen Vasenmalerei ein neuer Typus für die Wiedergewinnung der Helena aufkommt; statt des alten
bei Brygos deckt sie seine Flucht, indem sie sich mit männ- licher Kühnheit dem andringenden Menelaos entgegenwirft; beides wahrlich nicht im Widerspruch, sondern im schönsten Einklang mit dem Charakter von Hektors Weibe, dessen her- vorstechendster Zug, neben der hingebenden Liebe zum Gatten, die aufopferndste Mutterliebe ist, in Troja wie in Phthia, bei Homer wie bei Euripides.
Die Frage nach der hier zu Grunde liegenden poetischen Quelle kann zwar erst unten in gröſserem Zusammenhange er- ledigt werden, doch scheint es nicht überflüssig gleich hier dar- auf hinzuweisen, daſs es unnötig oder vielmehr im höchsten Grade verkehrt wäre, für diese kleine Verschiedenheit in dem Auf- treten Andromaches auch eine Verschiedenheit der poetischen Quellen anzunehmen. Lediglich in der verschiedenen Weise, in welcher Brygos und der Maler der Vivenziovase diesen Vorgang mit anderen Episoden der Iliupersis, speciell mit dem Tode des Priamos, combiniert haben, hat dieselbe ihren Grund. Ge- geben war in der poetischen Quelle und der durch sie beein- fluſsten Sagenanschauung der Zeit, daſs Menelaos den Deiphobos tötet, gegeben ohne Zweifel auch, daſs er dabei oder kurz nach- her von Andromache mit der einzigen ihr in der Hast zu Ge- bote stehenden Waffe, einer Mörserkeule, angegriffen wird. Ob dies aber bei dem Dichter geschah, bevor oder nachdem Neopto- lemos den Astyanax ergriffen hatte, ob zum Schutz, wie auf der Brygosschale, oder zur Rettung, wie auf der Vivenziovase, läſst sich aus den Bildwerken und, wie gleich hinzugefügt werden mag, mit unserem Material überhaupt nicht entscheiden.
Die fliehende Frau darf nun unbedenklich Helena benannt werden; schon der Vergleich der Berliner Amphora wäre für die Richtigkeit dieser Benennung beweisend; aber deutlich spricht dafür auch die vortreffliche Charakteristik der Figur; mit aufge- löstem Haar eilt sie hinweg, den Blick starr auf den hinsinken- den Deiphobos und auf ihren ersten treulos verlassenen Gatten gerichtet. Es ist gewiſs kein Zufall, daſs gerade in der Zeit des Brygos in der rotfigurigen Vasenmalerei ein neuer Typus für die Wiedergewinnung der Helena aufkommt; statt des alten
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[69/0083]
bei Brygos deckt sie seine Flucht, indem sie sich mit männ-
licher Kühnheit dem andringenden Menelaos entgegenwirft;
beides wahrlich nicht im Widerspruch, sondern im schönsten
Einklang mit dem Charakter von Hektors Weibe, dessen her-
vorstechendster Zug, neben der hingebenden Liebe zum Gatten,
die aufopferndste Mutterliebe ist, in Troja wie in Phthia, bei
Homer wie bei Euripides.
Die Frage nach der hier zu Grunde liegenden poetischen
Quelle kann zwar erst unten in gröſserem Zusammenhange er-
ledigt werden, doch scheint es nicht überflüssig gleich hier dar-
auf hinzuweisen, daſs es unnötig oder vielmehr im höchsten
Grade verkehrt wäre, für diese kleine Verschiedenheit in dem Auf-
treten Andromaches auch eine Verschiedenheit der poetischen
Quellen anzunehmen. Lediglich in der verschiedenen Weise, in
welcher Brygos und der Maler der Vivenziovase diesen Vorgang
mit anderen Episoden der Iliupersis, speciell mit dem Tode des
Priamos, combiniert haben, hat dieselbe ihren Grund. Ge-
geben war in der poetischen Quelle und der durch sie beein-
fluſsten Sagenanschauung der Zeit, daſs Menelaos den Deiphobos
tötet, gegeben ohne Zweifel auch, daſs er dabei oder kurz nach-
her von Andromache mit der einzigen ihr in der Hast zu Ge-
bote stehenden Waffe, einer Mörserkeule, angegriffen wird. Ob
dies aber bei dem Dichter geschah, bevor oder nachdem Neopto-
lemos den Astyanax ergriffen hatte, ob zum Schutz, wie auf der
Brygosschale, oder zur Rettung, wie auf der Vivenziovase, läſst
sich aus den Bildwerken und, wie gleich hinzugefügt werden
mag, mit unserem Material überhaupt nicht entscheiden.
Die fliehende Frau darf nun unbedenklich Helena benannt
werden; schon der Vergleich der Berliner Amphora wäre für die
Richtigkeit dieser Benennung beweisend; aber deutlich spricht
dafür auch die vortreffliche Charakteristik der Figur; mit aufge-
löstem Haar eilt sie hinweg, den Blick starr auf den hinsinken-
den Deiphobos und auf ihren ersten treulos verlassenen Gatten
gerichtet. Es ist gewiſs kein Zufall, daſs gerade in der Zeit
des Brygos in der rotfigurigen Vasenmalerei ein neuer Typus
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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/83>, abgerufen am 16.02.2025.
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