Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

Bild:
<< vorherige Seite

gegenwärtig. Wie frei die archaische Kunst im Hinzufügen sol-
cher zuschauenden Personen schaltet, zeigt sich noch deutlicher,
wenn bei der Wappnung des Achilleus mit den von Thetis über-
brachten Waffen Peleus und Neoptolemos gegenwärtig sind 22) oder
wenn an dem Kampf um die Leiche des Achilleus Neoptolemos
teilnimmt 23), beides in vollständigem Widerspruch mit Sage und
Poesie. Neoptolemos weilt, so lange sein Vater lebt, auf seiner
Geburtsinsel Skyros, Peleus war niemals vor Troia. Aber der
Künstler denkt: wer kann sich herzlicher an der Heldengrösse
des Achilleus freuen als sein Vater Peleus und sein Sohn Neopto-
tolemos, und wem ziemt es mehr für die Leiche des Vaters zu
kämpfen, als dem Sohn.

Mit ihrer ganzen Freiheit im Gestalten, mit ihrer vollen,
frischen Erzählungslust hat diese älteste Kunst einer Fülle von
Sagenstoffen bildliche Form geliehen, die in diesen festgestellten
Typen, wie ein köstlicher Schatz, von Generation zu Generation
vererbt werden und die zähesten und unveräusserlichsten Be-
standtheile der bildlichen Tradition ausmachen.

In den Entwickelungsgang der Sage greift indessen bald ein
neuer Faktor, die Lyrik, namentlich die der Dorer, mächtig um-
gestaltend ein; ihr sehr nachhaltiger Einfluss auf die Sagen-
bildung und demgemäss auf die Kunst wird in der Regel zu
gering angeschlagen 24). Wir können ihre Macht namentlich an
der Wirkung eines Dichters abmessen, des Stesichoros von Himera.
Dieser merkwürdige Mann, dessen Sagengestaltungen von Aischy-
los und Euripides, von Theokrit und Alexander Aitolos vielfach
übernommen wurden, dessen Gedichte im 5. Jahrhundert in Athen
so populär waren, dass die Komödiendichter Verse daraus ohne

22) Rhangabe Aux amis de l'antiquite hommage du comite des antiquairs
d'Athenes
. Paris 1869. Heydemann Vasenbilder VI 4. Wiener Vorlege-
blätter Ser. II 6, 1.
23) Gerhard A. V. III 227, 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2.
24) So noch neuerdings von Luckenbach a. a. O. S. 563, dem freilich
die durch die Natur seiner Aufgabe gebotene Beschränkung zur ausreichen-
den Entschuldigung dient. Hätte er die Nosten in den Kreis seiner Betrach-
tung gezogen, so wäre er zu anderen Resultaten gekommen.

gegenwärtig. Wie frei die archaische Kunst im Hinzufügen sol-
cher zuschauenden Personen schaltet, zeigt sich noch deutlicher,
wenn bei der Wappnung des Achilleus mit den von Thetis über-
brachten Waffen Peleus und Neoptolemos gegenwärtig sind 22) oder
wenn an dem Kampf um die Leiche des Achilleus Neoptolemos
teilnimmt 23), beides in vollständigem Widerspruch mit Sage und
Poesie. Neoptolemos weilt, so lange sein Vater lebt, auf seiner
Geburtsinsel Skyros, Peleus war niemals vor Troia. Aber der
Künstler denkt: wer kann sich herzlicher an der Heldengröſse
des Achilleus freuen als sein Vater Peleus und sein Sohn Neopto-
tolemos, und wem ziemt es mehr für die Leiche des Vaters zu
kämpfen, als dem Sohn.

Mit ihrer ganzen Freiheit im Gestalten, mit ihrer vollen,
frischen Erzählungslust hat diese älteste Kunst einer Fülle von
Sagenstoffen bildliche Form geliehen, die in diesen festgestellten
Typen, wie ein köstlicher Schatz, von Generation zu Generation
vererbt werden und die zähesten und unveräuſserlichsten Be-
standtheile der bildlichen Tradition ausmachen.

In den Entwickelungsgang der Sage greift indessen bald ein
neuer Faktor, die Lyrik, namentlich die der Dorer, mächtig um-
gestaltend ein; ihr sehr nachhaltiger Einfluſs auf die Sagen-
bildung und demgemäſs auf die Kunst wird in der Regel zu
gering angeschlagen 24). Wir können ihre Macht namentlich an
der Wirkung eines Dichters abmessen, des Stesichoros von Himera.
Dieser merkwürdige Mann, dessen Sagengestaltungen von Aischy-
los und Euripides, von Theokrit und Alexander Aitolos vielfach
übernommen wurden, dessen Gedichte im 5. Jahrhundert in Athen
so populär waren, daſs die Komödiendichter Verse daraus ohne

22) Rhangabé Aux amis de l’antiquité hommage du comité des antiquairs
d’Athènes
. Paris 1869. Heydemann Vasenbilder VI 4. Wiener Vorlege-
blätter Ser. II 6, 1.
23) Gerhard A. V. III 227, 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2.
24) So noch neuerdings von Luckenbach a. a. O. S. 563, dem freilich
die durch die Natur seiner Aufgabe gebotene Beschränkung zur ausreichen-
den Entschuldigung dient. Hätte er die Nosten in den Kreis seiner Betrach-
tung gezogen, so wäre er zu anderen Resultaten gekommen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0038" n="24"/>
gegenwärtig. Wie frei die archaische Kunst im Hinzufügen sol-<lb/>
cher zuschauenden Personen schaltet, zeigt sich noch deutlicher,<lb/>
wenn bei der Wappnung des Achilleus mit den von Thetis über-<lb/>
brachten Waffen Peleus und Neoptolemos gegenwärtig sind <note place="foot" n="22)">Rhangabé <hi rendition="#i">Aux amis de l&#x2019;antiquité hommage du comité des antiquairs<lb/>
d&#x2019;Athènes</hi>. Paris 1869. Heydemann Vasenbilder VI 4. Wiener Vorlege-<lb/>
blätter Ser. II 6, 1.</note> oder<lb/>
wenn an dem Kampf um die Leiche des Achilleus Neoptolemos<lb/>
teilnimmt <note place="foot" n="23)">Gerhard A. V. III 227, 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2.</note>, beides in vollständigem Widerspruch mit Sage und<lb/>
Poesie. Neoptolemos weilt, so lange sein Vater lebt, auf seiner<lb/>
Geburtsinsel Skyros, Peleus war niemals vor Troia. Aber der<lb/>
Künstler denkt: wer kann sich herzlicher an der Heldengrö&#x017F;se<lb/>
des Achilleus freuen als sein Vater Peleus und sein Sohn Neopto-<lb/>
tolemos, und wem ziemt es mehr für die Leiche des Vaters zu<lb/>
kämpfen, als dem Sohn.</p><lb/>
          <p>Mit ihrer ganzen Freiheit im Gestalten, mit ihrer vollen,<lb/>
frischen Erzählungslust hat diese älteste Kunst einer Fülle von<lb/>
Sagenstoffen bildliche Form geliehen, die in diesen festgestellten<lb/>
Typen, wie ein köstlicher Schatz, von Generation zu Generation<lb/>
vererbt werden und die zähesten und unveräu&#x017F;serlichsten Be-<lb/>
standtheile der bildlichen Tradition ausmachen.</p><lb/>
          <p>In den Entwickelungsgang der Sage greift indessen bald ein<lb/>
neuer Faktor, die Lyrik, namentlich die der Dorer, mächtig um-<lb/>
gestaltend ein; ihr sehr nachhaltiger Einflu&#x017F;s auf die Sagen-<lb/>
bildung und demgemä&#x017F;s auf die Kunst wird in der Regel zu<lb/>
gering angeschlagen <note place="foot" n="24)">So noch neuerdings von Luckenbach a. a. O. S. 563, dem freilich<lb/>
die durch die Natur seiner Aufgabe gebotene Beschränkung zur ausreichen-<lb/>
den Entschuldigung dient. Hätte er die Nosten in den Kreis seiner Betrach-<lb/>
tung gezogen, so wäre er zu anderen Resultaten gekommen.</note>. Wir können ihre Macht namentlich an<lb/>
der Wirkung eines Dichters abmessen, des Stesichoros von Himera.<lb/>
Dieser merkwürdige Mann, dessen Sagengestaltungen von Aischy-<lb/>
los und Euripides, von Theokrit und Alexander Aitolos vielfach<lb/>
übernommen wurden, dessen Gedichte im 5. Jahrhundert in Athen<lb/>
so populär waren, da&#x017F;s die Komödiendichter Verse daraus ohne<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[24/0038] gegenwärtig. Wie frei die archaische Kunst im Hinzufügen sol- cher zuschauenden Personen schaltet, zeigt sich noch deutlicher, wenn bei der Wappnung des Achilleus mit den von Thetis über- brachten Waffen Peleus und Neoptolemos gegenwärtig sind 22) oder wenn an dem Kampf um die Leiche des Achilleus Neoptolemos teilnimmt 23), beides in vollständigem Widerspruch mit Sage und Poesie. Neoptolemos weilt, so lange sein Vater lebt, auf seiner Geburtsinsel Skyros, Peleus war niemals vor Troia. Aber der Künstler denkt: wer kann sich herzlicher an der Heldengröſse des Achilleus freuen als sein Vater Peleus und sein Sohn Neopto- tolemos, und wem ziemt es mehr für die Leiche des Vaters zu kämpfen, als dem Sohn. Mit ihrer ganzen Freiheit im Gestalten, mit ihrer vollen, frischen Erzählungslust hat diese älteste Kunst einer Fülle von Sagenstoffen bildliche Form geliehen, die in diesen festgestellten Typen, wie ein köstlicher Schatz, von Generation zu Generation vererbt werden und die zähesten und unveräuſserlichsten Be- standtheile der bildlichen Tradition ausmachen. In den Entwickelungsgang der Sage greift indessen bald ein neuer Faktor, die Lyrik, namentlich die der Dorer, mächtig um- gestaltend ein; ihr sehr nachhaltiger Einfluſs auf die Sagen- bildung und demgemäſs auf die Kunst wird in der Regel zu gering angeschlagen 24). Wir können ihre Macht namentlich an der Wirkung eines Dichters abmessen, des Stesichoros von Himera. Dieser merkwürdige Mann, dessen Sagengestaltungen von Aischy- los und Euripides, von Theokrit und Alexander Aitolos vielfach übernommen wurden, dessen Gedichte im 5. Jahrhundert in Athen so populär waren, daſs die Komödiendichter Verse daraus ohne 22) Rhangabé Aux amis de l’antiquité hommage du comité des antiquairs d’Athènes. Paris 1869. Heydemann Vasenbilder VI 4. Wiener Vorlege- blätter Ser. II 6, 1. 23) Gerhard A. V. III 227, 2. Overbeck a. a. O. XXIII 2. 24) So noch neuerdings von Luckenbach a. a. O. S. 563, dem freilich die durch die Natur seiner Aufgabe gebotene Beschränkung zur ausreichen- den Entschuldigung dient. Hätte er die Nosten in den Kreis seiner Betrach- tung gezogen, so wäre er zu anderen Resultaten gekommen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/38
Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/38>, abgerufen am 24.11.2024.