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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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ist eigentlich in einem andern Moment der Handlung aufgefasst,
oder richtiger, der eigentliche Moment der Handlung ist vom
Künstler unbestimmt gelassen. Der Grund dieser Unbestimmtheit
liegt aber darin, dass diese archaische Kunst von keiner Be-
schränkung wissen will, dass sie sich und dem Beschauer nicht
genugthun zu können glaubt und gleich Alles erzählen möchte.

Oder ein anderes Beispiel; sehr beliebt ist die Darstellung
vom Tode des schönen Troilos, des jüngsten Priamossohnes, der
im Anfang des Krieges ausgeritten ist, seine Schwester Polyxena
zum Brunnen vor der Stadt zu begleiten und selbst seine
Rosse zu tränken, und dort von Achilleus überrascht wird.
Polyxena entkommt, aber den Knaben, so sehr er seine Rosse zur
Eile antreibt, holt Achilleus ein und tötet ihn; zu spät eilt Hek-
tor, zu spät die übrigen Brüder dem Knaben zu Hülfe. Hier
begnügt sich die Kunst nur selten damit, Polyxena, die im
Schrecken den Wasserkrug fallen lässt, Troilos auf den flüch-
tigen Rossen dahinsprengend, Achilleus mit mächtigen Schritten
dem Fliehenden nacheilend darzustellen; bald erweitert sie den
Typus 9) und stellt auch den Brunnen dar 10), und als ob nichts
geschehen als ob nicht eben Achilleus hier hervorgebrochen wäre
und als ob nicht die Königskinder in tötlicher Gefahr schwebten,
ist ein Trojanerknabe ruhig beschäftigt, seinen Krug zu füllen,
ohne auf den fliehenden Troilos einen Blick zu werfen, ohne
Angst zu verraten, dass auch ihm der Rückweg zur Stadt ab-
geschnitten und Verderben bereitet werde. Das Treiben am
Brunnen vor der Stadt will der Künstler darstellen, aber er
schildert es, wie es sich in ruhigen Tagen abspielt, nicht wie es
in dem Augenblick sein müsste, da die drohende Kriegsgefahr
sich der Stadt naht. Derselbe Mangel an einheitlicher Auffassung
begegnet uns an der anderen Seite der Darstellung, wo das Ziel
der Flucht, die Stadtmauer von Troia dargestellt ist. Vor der
Mauer sitzt auf einem Steinsitz Priamos, dem Antenor eben die

9) Vgl. Cap. II, Erweiterung und Verschmelzung der Typen.
10) Das Beispiel ist entnommen von der Francois-Vase (M. d. I. IV tav.
LIV. LV; Arch. Zeit. 1850 Taf. XXIII. XXIV; Wiener Vorlegeblätter, Ser. II.
Taf. I. II.)

ist eigentlich in einem andern Moment der Handlung aufgefaſst,
oder richtiger, der eigentliche Moment der Handlung ist vom
Künstler unbestimmt gelassen. Der Grund dieser Unbestimmtheit
liegt aber darin, daſs diese archaische Kunst von keiner Be-
schränkung wissen will, daſs sie sich und dem Beschauer nicht
genugthun zu können glaubt und gleich Alles erzählen möchte.

Oder ein anderes Beispiel; sehr beliebt ist die Darstellung
vom Tode des schönen Troilos, des jüngsten Priamossohnes, der
im Anfang des Krieges ausgeritten ist, seine Schwester Polyxena
zum Brunnen vor der Stadt zu begleiten und selbst seine
Rosse zu tränken, und dort von Achilleus überrascht wird.
Polyxena entkommt, aber den Knaben, so sehr er seine Rosse zur
Eile antreibt, holt Achilleus ein und tötet ihn; zu spät eilt Hek-
tor, zu spät die übrigen Brüder dem Knaben zu Hülfe. Hier
begnügt sich die Kunst nur selten damit, Polyxena, die im
Schrecken den Wasserkrug fallen läſst, Troilos auf den flüch-
tigen Rossen dahinsprengend, Achilleus mit mächtigen Schritten
dem Fliehenden nacheilend darzustellen; bald erweitert sie den
Typus 9) und stellt auch den Brunnen dar 10), und als ob nichts
geschehen als ob nicht eben Achilleus hier hervorgebrochen wäre
und als ob nicht die Königskinder in tötlicher Gefahr schwebten,
ist ein Trojanerknabe ruhig beschäftigt, seinen Krug zu füllen,
ohne auf den fliehenden Troilos einen Blick zu werfen, ohne
Angst zu verraten, daſs auch ihm der Rückweg zur Stadt ab-
geschnitten und Verderben bereitet werde. Das Treiben am
Brunnen vor der Stadt will der Künstler darstellen, aber er
schildert es, wie es sich in ruhigen Tagen abspielt, nicht wie es
in dem Augenblick sein müſste, da die drohende Kriegsgefahr
sich der Stadt naht. Derselbe Mangel an einheitlicher Auffassung
begegnet uns an der anderen Seite der Darstellung, wo das Ziel
der Flucht, die Stadtmauer von Troia dargestellt ist. Vor der
Mauer sitzt auf einem Steinsitz Priamos, dem Antenor eben die

9) Vgl. Cap. II, Erweiterung und Verschmelzung der Typen.
10) Das Beispiel ist entnommen von der François-Vase (M. d. I. IV tav.
LIV. LV; Arch. Zeit. 1850 Taf. XXIII. XXIV; Wiener Vorlegeblätter, Ser. II.
Taf. I. II.)
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[16/0030] ist eigentlich in einem andern Moment der Handlung aufgefaſst, oder richtiger, der eigentliche Moment der Handlung ist vom Künstler unbestimmt gelassen. Der Grund dieser Unbestimmtheit liegt aber darin, daſs diese archaische Kunst von keiner Be- schränkung wissen will, daſs sie sich und dem Beschauer nicht genugthun zu können glaubt und gleich Alles erzählen möchte. Oder ein anderes Beispiel; sehr beliebt ist die Darstellung vom Tode des schönen Troilos, des jüngsten Priamossohnes, der im Anfang des Krieges ausgeritten ist, seine Schwester Polyxena zum Brunnen vor der Stadt zu begleiten und selbst seine Rosse zu tränken, und dort von Achilleus überrascht wird. Polyxena entkommt, aber den Knaben, so sehr er seine Rosse zur Eile antreibt, holt Achilleus ein und tötet ihn; zu spät eilt Hek- tor, zu spät die übrigen Brüder dem Knaben zu Hülfe. Hier begnügt sich die Kunst nur selten damit, Polyxena, die im Schrecken den Wasserkrug fallen läſst, Troilos auf den flüch- tigen Rossen dahinsprengend, Achilleus mit mächtigen Schritten dem Fliehenden nacheilend darzustellen; bald erweitert sie den Typus 9) und stellt auch den Brunnen dar 10), und als ob nichts geschehen als ob nicht eben Achilleus hier hervorgebrochen wäre und als ob nicht die Königskinder in tötlicher Gefahr schwebten, ist ein Trojanerknabe ruhig beschäftigt, seinen Krug zu füllen, ohne auf den fliehenden Troilos einen Blick zu werfen, ohne Angst zu verraten, daſs auch ihm der Rückweg zur Stadt ab- geschnitten und Verderben bereitet werde. Das Treiben am Brunnen vor der Stadt will der Künstler darstellen, aber er schildert es, wie es sich in ruhigen Tagen abspielt, nicht wie es in dem Augenblick sein müſste, da die drohende Kriegsgefahr sich der Stadt naht. Derselbe Mangel an einheitlicher Auffassung begegnet uns an der anderen Seite der Darstellung, wo das Ziel der Flucht, die Stadtmauer von Troia dargestellt ist. Vor der Mauer sitzt auf einem Steinsitz Priamos, dem Antenor eben die 9) Vgl. Cap. II, Erweiterung und Verschmelzung der Typen. 10) Das Beispiel ist entnommen von der François-Vase (M. d. I. IV tav. LIV. LV; Arch. Zeit. 1850 Taf. XXIII. XXIV; Wiener Vorlegeblätter, Ser. II. Taf. I. II.)

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/30>, abgerufen am 24.11.2024.