sondern für das eines Spartaners oder vielmehr eines in Sparta lebenden Chiers. Da nun kein Besonnener annehmen wird, dass Hellanikos von einer solchen in seiner Heimat lebenden Über- lieferung Nichts gewusst habe, so folgt aus dieser Angabe des Scho- liasten mit unabweisbarer Notwendigkeit, dass entweder zu Hellani- kos' Lebzeiten, also am Ende des fünften Jahrhunderts, die Tra- dition von Lesches noch nicht existierte oder dass sie dem Hellanikos ganz unglaubhaft schien: in letzterem Falle müssen es sehr starke und jedenfalls absolut entscheidende Gründe gewesen sein, die dem Lokalpatriotismus des Hellanikos das Geständnis ab- nötigten, dass der Ruhm, das Vaterland der kleinen Ilias zu sein, nicht seiner Heimat, sondern Sparta oder Chios gebühre. Weitaus wahrscheinlicher ist aber die erste Annahme. Dann würde Lesches, der Mann, der die alten Fabeln in der leskhe erzählt, der litterarhistorischen Mythenbildung des vierten Jahr- hunderts angehören; denn dass Phanias ihn erfunden haben sollte, stimmt nicht zu dem wissenschaftlichen Charakter des Mannes; dazu passt vortrefflich, dass ihn Aristoteles nicht kennt. Lesches ist die Gestalt, welche lesbischer Lokalpatriotismus dem Geschöpf der ionischen Legende, Thestorides von Phokaia, entgegenstellt. Thestorides -- der Name ist doch wohl aus dem Patrony- mikon des Kalchas entstanden -- Thestorides, der Schulmeister von Phokaia, ist bekanntlich ziemlich früh in die Homerlegende eingedrungen. Ob er stets den hässlichen Charakter gehabt hat, den ihm die vita Homeri giebt, ist mindestens zweifelhaft. Worauf die Angabe, dass der ganz unbekannte Diodoros von Erythrai der Verfasser sei, beruht, lässt sich nicht entscheiden, ebensowenig welche Gründe Hellanikos für Kinaithon's Autor- schaft hatte. Kein Besonnener wird heute sich vermessen, die Frage nach dem Autor der kleinen Ilias beantworten zu wollen. Sollen aber doch einmal die Ansprüche abgewogen werden, so ist sowohl Diodoros als Kinaithon weit eher berechtigt, für den Verfasser der kleinen Ilias zu gelten, als Lesches.
Wenn Phanias den Lesches nicht erfunden hat, so scheint er ihn doch in die Litterarhistorie eingeführt zu haben 3). Na-
3) Der ausgedehnte Gebrauch, den das Drama von dem Sagenstoff der
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sondern für das eines Spartaners oder vielmehr eines in Sparta lebenden Chiers. Da nun kein Besonnener annehmen wird, daſs Hellanikos von einer solchen in seiner Heimat lebenden Über- lieferung Nichts gewuſst habe, so folgt aus dieser Angabe des Scho- liasten mit unabweisbarer Notwendigkeit, daſs entweder zu Hellani- kos’ Lebzeiten, also am Ende des fünften Jahrhunderts, die Tra- dition von Lesches noch nicht existierte oder daſs sie dem Hellanikos ganz unglaubhaft schien: in letzterem Falle müssen es sehr starke und jedenfalls absolut entscheidende Gründe gewesen sein, die dem Lokalpatriotismus des Hellanikos das Geständnis ab- nötigten, daſs der Ruhm, das Vaterland der kleinen Ilias zu sein, nicht seiner Heimat, sondern Sparta oder Chios gebühre. Weitaus wahrscheinlicher ist aber die erste Annahme. Dann würde Lesches, der Mann, der die alten Fabeln in der λέσχη erzählt, der litterarhistorischen Mythenbildung des vierten Jahr- hunderts angehören; denn daſs Phanias ihn erfunden haben sollte, stimmt nicht zu dem wissenschaftlichen Charakter des Mannes; dazu paſst vortrefflich, daſs ihn Aristoteles nicht kennt. Lesches ist die Gestalt, welche lesbischer Lokalpatriotismus dem Geschöpf der ionischen Legende, Thestorides von Phokaia, entgegenstellt. Thestorides — der Name ist doch wohl aus dem Patrony- mikon des Kalchas entstanden — Thestorides, der Schulmeister von Phokaia, ist bekanntlich ziemlich früh in die Homerlegende eingedrungen. Ob er stets den häſslichen Charakter gehabt hat, den ihm die vita Homeri giebt, ist mindestens zweifelhaft. Worauf die Angabe, daſs der ganz unbekannte Diodoros von Erythrai der Verfasser sei, beruht, läſst sich nicht entscheiden, ebensowenig welche Gründe Hellanikos für Kinaithon’s Autor- schaft hatte. Kein Besonnener wird heute sich vermessen, die Frage nach dem Autor der kleinen Ilias beantworten zu wollen. Sollen aber doch einmal die Ansprüche abgewogen werden, so ist sowohl Diodoros als Kinaithon weit eher berechtigt, für den Verfasser der kleinen Ilias zu gelten, als Lesches.
Wenn Phanias den Lesches nicht erfunden hat, so scheint er ihn doch in die Litterarhistorie eingeführt zu haben 3). Na-
3) Der ausgedehnte Gebrauch, den das Drama von dem Sagenstoff der
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sondern für das eines Spartaners oder vielmehr eines in Sparta
lebenden Chiers. Da nun kein Besonnener annehmen wird, daſs
Hellanikos von einer solchen in seiner Heimat lebenden Über-
lieferung Nichts gewuſst habe, so folgt aus dieser Angabe des Scho-
liasten mit unabweisbarer Notwendigkeit, daſs entweder zu Hellani-
kos’ Lebzeiten, also am Ende des fünften Jahrhunderts, die Tra-
dition von Lesches noch nicht existierte oder daſs sie dem Hellanikos
ganz unglaubhaft schien: in letzterem Falle müssen es sehr
starke und jedenfalls absolut entscheidende Gründe gewesen sein,
die dem Lokalpatriotismus des Hellanikos das Geständnis ab-
nötigten, daſs der Ruhm, das Vaterland der kleinen Ilias zu
sein, nicht seiner Heimat, sondern Sparta oder Chios gebühre.
Weitaus wahrscheinlicher ist aber die erste Annahme. Dann
würde Lesches, der Mann, der die alten Fabeln in der λέσχη
erzählt, der litterarhistorischen Mythenbildung des vierten Jahr-
hunderts angehören; denn daſs Phanias ihn erfunden haben sollte,
stimmt nicht zu dem wissenschaftlichen Charakter des Mannes;
dazu paſst vortrefflich, daſs ihn Aristoteles nicht kennt. Lesches
ist die Gestalt, welche lesbischer Lokalpatriotismus dem Geschöpf
der ionischen Legende, Thestorides von Phokaia, entgegenstellt.
Thestorides — der Name ist doch wohl aus dem Patrony-
mikon des Kalchas entstanden — Thestorides, der Schulmeister
von Phokaia, ist bekanntlich ziemlich früh in die Homerlegende
eingedrungen. Ob er stets den häſslichen Charakter gehabt hat,
den ihm die vita Homeri giebt, ist mindestens zweifelhaft.
Worauf die Angabe, daſs der ganz unbekannte Diodoros von
Erythrai der Verfasser sei, beruht, läſst sich nicht entscheiden,
ebensowenig welche Gründe Hellanikos für Kinaithon’s Autor-
schaft hatte. Kein Besonnener wird heute sich vermessen, die
Frage nach dem Autor der kleinen Ilias beantworten zu wollen.
Sollen aber doch einmal die Ansprüche abgewogen werden, so
ist sowohl Diodoros als Kinaithon weit eher berechtigt, für den
Verfasser der kleinen Ilias zu gelten, als Lesches.
Wenn Phanias den Lesches nicht erfunden hat, so scheint
er ihn doch in die Litterarhistorie eingeführt zu haben 3). Na-
3) Der ausgedehnte Gebrauch, den das Drama von dem Sagenstoff der
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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/241>, abgerufen am 16.02.2025.
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