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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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Bruder Anchises (nach Hygin). Ich will nicht zu viel Gewicht
darauf legen, dass ein Künstler, der die Version des Arktinos
hätte darstellen wollen, doch füglich den zweiten Sohn des
Laokoon, der gerettet wird, nicht auslassen durfte; man mag
das für eine Ungeschicklichkeit des Vasenmalers erklären; aber
ich muss behaupten, dass weder die dargestellte Situation noch
die einzelnen Figuren mit der Laokoonsage und den dabei betei-
ligten Personen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit haben.
Bei allen unseren Gewährsmännern von Arktinos bis auf Quintus
Smyrnaeus erscheinen zwei Schlangen, auf der Vase nur eine;
in allen dichterischen und bildlichen Darstellungen sind die Söhne
des Laokoon noch Kinder, hier ist der angebliche Laokoontide
ein kräftiger Jüngling. Und Laokoon selbst? Wie kommt der
Apollopriester zu dem wirren Haar und dem struppigen Bart,
zu dem wilden und trotzigem Aussehen, das so auffällig an den
verbrecherischen Ixion der Rückseite erinnert? Gebietet der Maler
über so geringe Mittel, dass er nicht im Stande ist, den beklagens-
werten Apollopriester, der sich einmal nur vergessen, von dem
ruchlosen Gotteslästerer äusserlich zu unterscheiden? Und wie
kommt der Apollopriester zu Chlamys und Schwert? Denn nicht
das ist das Auffällige, dass er neben dem Schwert auch die
Scheide hat, wofür Klein nicht erst nach Schriftstellerbelegen zu
suchen brauchte, sondern das, dass er schon jetzt das Opfer-
schwert hält in einem Augenblick, da "die Vorbereitungen zum
Opfer noch nicht im Gange, priesterliche Gewänder noch nicht
angethan, Opfergerät und Opfertier noch nicht herbeigeführt sind",
und dass er neben dem "Opfermesser" die dem Priester nicht
ziemliche Chlamys trägt. Dass endlich der vermeintliche Anchises
(der übrigens viel priesterlicher aussieht, als der "Priester" selbst)
in keiner Weise dem gebeugten, vom Blitz gelähmten Alten, den
sein Sohn auf dem Rücken aus Troia tragen muss, entspricht,
will ich zu sehr nicht betonen, da die Benennung dieser Figur
von der Deutung des Vorgangs im Allgemeinen unabhängig ist.
Und nun vergegenwärtige man sich die ganze Situation. Laokoon
hat mit seinem erwachsenen Sohn am Altar gestanden, Gott weiss
zu welchem Zweck, bereits mit dem Schwert in der Hand. Da

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Bruder Anchises (nach Hygin). Ich will nicht zu viel Gewicht
darauf legen, daſs ein Künstler, der die Version des Arktinos
hätte darstellen wollen, doch füglich den zweiten Sohn des
Laokoon, der gerettet wird, nicht auslassen durfte; man mag
das für eine Ungeschicklichkeit des Vasenmalers erklären; aber
ich muſs behaupten, daſs weder die dargestellte Situation noch
die einzelnen Figuren mit der Laokoonsage und den dabei betei-
ligten Personen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit haben.
Bei allen unseren Gewährsmännern von Arktinos bis auf Quintus
Smyrnaeus erscheinen zwei Schlangen, auf der Vase nur eine;
in allen dichterischen und bildlichen Darstellungen sind die Söhne
des Laokoon noch Kinder, hier ist der angebliche Laokoontide
ein kräftiger Jüngling. Und Laokoon selbst? Wie kommt der
Apollopriester zu dem wirren Haar und dem struppigen Bart,
zu dem wilden und trotzigem Aussehen, das so auffällig an den
verbrecherischen Ixion der Rückseite erinnert? Gebietet der Maler
über so geringe Mittel, daſs er nicht im Stande ist, den beklagens-
werten Apollopriester, der sich einmal nur vergessen, von dem
ruchlosen Gotteslästerer äuſserlich zu unterscheiden? Und wie
kommt der Apollopriester zu Chlamys und Schwert? Denn nicht
das ist das Auffällige, daſs er neben dem Schwert auch die
Scheide hat, wofür Klein nicht erst nach Schriftstellerbelegen zu
suchen brauchte, sondern das, daſs er schon jetzt das Opfer-
schwert hält in einem Augenblick, da „die Vorbereitungen zum
Opfer noch nicht im Gange, priesterliche Gewänder noch nicht
angethan, Opfergerät und Opfertier noch nicht herbeigeführt sind“,
und daſs er neben dem „Opfermesser“ die dem Priester nicht
ziemliche Chlamys trägt. Daſs endlich der vermeintliche Anchises
(der übrigens viel priesterlicher aussieht, als der „Priester“ selbst)
in keiner Weise dem gebeugten, vom Blitz gelähmten Alten, den
sein Sohn auf dem Rücken aus Troia tragen muſs, entspricht,
will ich zu sehr nicht betonen, da die Benennung dieser Figur
von der Deutung des Vorgangs im Allgemeinen unabhängig ist.
Und nun vergegenwärtige man sich die ganze Situation. Laokoon
hat mit seinem erwachsenen Sohn am Altar gestanden, Gott weiſs
zu welchem Zweck, bereits mit dem Schwert in der Hand. Da

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[211/0225] Bruder Anchises (nach Hygin). Ich will nicht zu viel Gewicht darauf legen, daſs ein Künstler, der die Version des Arktinos hätte darstellen wollen, doch füglich den zweiten Sohn des Laokoon, der gerettet wird, nicht auslassen durfte; man mag das für eine Ungeschicklichkeit des Vasenmalers erklären; aber ich muſs behaupten, daſs weder die dargestellte Situation noch die einzelnen Figuren mit der Laokoonsage und den dabei betei- ligten Personen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit haben. Bei allen unseren Gewährsmännern von Arktinos bis auf Quintus Smyrnaeus erscheinen zwei Schlangen, auf der Vase nur eine; in allen dichterischen und bildlichen Darstellungen sind die Söhne des Laokoon noch Kinder, hier ist der angebliche Laokoontide ein kräftiger Jüngling. Und Laokoon selbst? Wie kommt der Apollopriester zu dem wirren Haar und dem struppigen Bart, zu dem wilden und trotzigem Aussehen, das so auffällig an den verbrecherischen Ixion der Rückseite erinnert? Gebietet der Maler über so geringe Mittel, daſs er nicht im Stande ist, den beklagens- werten Apollopriester, der sich einmal nur vergessen, von dem ruchlosen Gotteslästerer äuſserlich zu unterscheiden? Und wie kommt der Apollopriester zu Chlamys und Schwert? Denn nicht das ist das Auffällige, daſs er neben dem Schwert auch die Scheide hat, wofür Klein nicht erst nach Schriftstellerbelegen zu suchen brauchte, sondern das, daſs er schon jetzt das Opfer- schwert hält in einem Augenblick, da „die Vorbereitungen zum Opfer noch nicht im Gange, priesterliche Gewänder noch nicht angethan, Opfergerät und Opfertier noch nicht herbeigeführt sind“, und daſs er neben dem „Opfermesser“ die dem Priester nicht ziemliche Chlamys trägt. Daſs endlich der vermeintliche Anchises (der übrigens viel priesterlicher aussieht, als der „Priester“ selbst) in keiner Weise dem gebeugten, vom Blitz gelähmten Alten, den sein Sohn auf dem Rücken aus Troia tragen muſs, entspricht, will ich zu sehr nicht betonen, da die Benennung dieser Figur von der Deutung des Vorgangs im Allgemeinen unabhängig ist. Und nun vergegenwärtige man sich die ganze Situation. Laokoon hat mit seinem erwachsenen Sohn am Altar gestanden, Gott weiſs zu welchem Zweck, bereits mit dem Schwert in der Hand. Da 14*

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/225>, abgerufen am 25.11.2024.