sein. Auch dort finden wir ja das einmal geschaffene Schema der Darstellung von Geschlecht zu Geschlecht, von Schule zu Schule vererbt, umgebildet, vervollkommnet. Und doch besteht ein sehr bedeutsamer Unterschied zwischen der bildlichen Tradition der älteren italienischen und der der antiken Kunst. Die Stoffe der italienischen Kunst, mögen es nun die Geschichten der heiligen Schrift sein oder die Legenden von Benedictus und Franciscus, haben eine feste kanonische Form, an der sich Nichts ändert und Nichts ändern darf, die dieselbe bleibt Jahrhunderte lang und fest eingeprägt ist dem schaffenden Künstler wie dem an- dächtigen Beschauer. Ganz anders steht der antike Künstler da, seine Stoffe sind in beständigem lebhaftem Fluss. Der antike Künstler teilt seine Ansprüche auf den Stoff mit dem Dichter. Der Dichter aber, namentlich der dramatische, bildet mit mäch- tiger Hand den Stoff um, während gleichzeitig der Geschichts- schreiber ihn mühselig und nicht ohne gewaltsame Änderungen seinem genealogischen System einordnet und der Philosoph an ihm herumkritisiert und interpretiert. In mannigfaltigen Brechungen liegen die einzelnen Sagen vor dem antiken Künstler; er hat die Wahl, welcher der vielfachen litterarischen Be- handlungen er sich anschliessen will.
Er hat die Wahl? hat er sie wirklich? wird nicht die An- schauung seiner Zeitgenossen auch sein Urteil wesentlich be- stimmen? wird er nicht derjenigen Version der Sage folgen müssen, welche seinen Zeitgenossen besonders geläufig ist? und welche ist es? wie verhalten sich die Vorstellungen des Volkes zu den poetischen Bearbeitungen der Sage?
Aus dem Volksbewusstsein ist die Sage entsprungen, aus dem Volksbewusstsein schöpft der Dichter; aber bleibt wirklich die Volksvorstellung unverändert Jahrhunderte lang? Ist sie die klare Quelle, aus der Poesie und Kunst schöpfen, ohne dass von Poesie und Kunst jemals ein Spiegelbild in sie zurückfällt, um ihr neue Farben und neuen Glanz zu verleihen? Nein, der Quell der Sage hat die Zauberkraft, das Bild des ächten Sängers, des ächten Bildners, der aus ihm schöpft, in sich aufzunehmen und
sein. Auch dort finden wir ja das einmal geschaffene Schema der Darstellung von Geschlecht zu Geschlecht, von Schule zu Schule vererbt, umgebildet, vervollkommnet. Und doch besteht ein sehr bedeutsamer Unterschied zwischen der bildlichen Tradition der älteren italienischen und der der antiken Kunst. Die Stoffe der italienischen Kunst, mögen es nun die Geschichten der heiligen Schrift sein oder die Legenden von Benedictus und Franciscus, haben eine feste kanonische Form, an der sich Nichts ändert und Nichts ändern darf, die dieselbe bleibt Jahrhunderte lang und fest eingeprägt ist dem schaffenden Künstler wie dem an- dächtigen Beschauer. Ganz anders steht der antike Künstler da, seine Stoffe sind in beständigem lebhaftem Fluſs. Der antike Künstler teilt seine Ansprüche auf den Stoff mit dem Dichter. Der Dichter aber, namentlich der dramatische, bildet mit mäch- tiger Hand den Stoff um, während gleichzeitig der Geschichts- schreiber ihn mühselig und nicht ohne gewaltsame Änderungen seinem genealogischen System einordnet und der Philosoph an ihm herumkritisiert und interpretiert. In mannigfaltigen Brechungen liegen die einzelnen Sagen vor dem antiken Künstler; er hat die Wahl, welcher der vielfachen litterarischen Be- handlungen er sich anschlieſsen will.
Er hat die Wahl? hat er sie wirklich? wird nicht die An- schauung seiner Zeitgenossen auch sein Urteil wesentlich be- stimmen? wird er nicht derjenigen Version der Sage folgen müssen, welche seinen Zeitgenossen besonders geläufig ist? und welche ist es? wie verhalten sich die Vorstellungen des Volkes zu den poetischen Bearbeitungen der Sage?
Aus dem Volksbewusstsein ist die Sage entsprungen, aus dem Volksbewuſstsein schöpft der Dichter; aber bleibt wirklich die Volksvorstellung unverändert Jahrhunderte lang? Ist sie die klare Quelle, aus der Poesie und Kunst schöpfen, ohne daſs von Poesie und Kunst jemals ein Spiegelbild in sie zurückfällt, um ihr neue Farben und neuen Glanz zu verleihen? Nein, der Quell der Sage hat die Zauberkraft, das Bild des ächten Sängers, des ächten Bildners, der aus ihm schöpft, in sich aufzunehmen und
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sein. Auch dort finden wir ja das einmal geschaffene Schema der
Darstellung von Geschlecht zu Geschlecht, von Schule zu Schule
vererbt, umgebildet, vervollkommnet. Und doch besteht ein sehr
bedeutsamer Unterschied zwischen der bildlichen Tradition der
älteren italienischen und der der antiken Kunst. Die Stoffe der
italienischen Kunst, mögen es nun die Geschichten der heiligen
Schrift sein oder die Legenden von Benedictus und Franciscus,
haben eine feste kanonische Form, an der sich Nichts ändert und
Nichts ändern darf, die dieselbe bleibt Jahrhunderte lang und
fest eingeprägt ist dem schaffenden Künstler wie dem an-
dächtigen Beschauer. Ganz anders steht der antike Künstler
da, seine Stoffe sind in beständigem lebhaftem Fluſs. Der antike
Künstler teilt seine Ansprüche auf den Stoff mit dem Dichter.
Der Dichter aber, namentlich der dramatische, bildet mit mäch-
tiger Hand den Stoff um, während gleichzeitig der Geschichts-
schreiber ihn mühselig und nicht ohne gewaltsame Änderungen
seinem genealogischen System einordnet und der Philosoph
an ihm herumkritisiert und interpretiert. In mannigfaltigen
Brechungen liegen die einzelnen Sagen vor dem antiken Künstler;
er hat die Wahl, welcher der vielfachen litterarischen Be-
handlungen er sich anschlieſsen will.
Er hat die Wahl? hat er sie wirklich? wird nicht die An-
schauung seiner Zeitgenossen auch sein Urteil wesentlich be-
stimmen? wird er nicht derjenigen Version der Sage folgen
müssen, welche seinen Zeitgenossen besonders geläufig ist? und
welche ist es? wie verhalten sich die Vorstellungen des Volkes
zu den poetischen Bearbeitungen der Sage?
Aus dem Volksbewusstsein ist die Sage entsprungen, aus
dem Volksbewuſstsein schöpft der Dichter; aber bleibt wirklich
die Volksvorstellung unverändert Jahrhunderte lang? Ist sie die
klare Quelle, aus der Poesie und Kunst schöpfen, ohne daſs von
Poesie und Kunst jemals ein Spiegelbild in sie zurückfällt, um
ihr neue Farben und neuen Glanz zu verleihen? Nein, der Quell
der Sage hat die Zauberkraft, das Bild des ächten Sängers, des
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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/21>, abgerufen am 16.02.2025.
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