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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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der Hauptgruppe nur je eine Figur zuliess, er konnte ihn weg-
lassen, weil er sowohl die Sagenversion als den künstlerischen
Typus derselben als so bekannt voraussetzen durfte, dass dem
Beschauer über den Ausgang der Scene kein Zweifel blieb, dass
derselbe vielmehr in der Phantasie im nächsten Augenblick den
Talthybios herbeispringen und dem Orestes Rettung bringen sah.
Was bei einer neugeschaffenen, selbständig erfundenen bildlichen
Darstellung ein grober, weil das Verständniss aufhebender Fehler
wäre, ist bei einer als einzelnes Glied in der Reihe der bildlichen
Tradition stehenden Darstellung, wenn nicht unbedingt gestattet,
so doch verzeihlich. Dass nun auch die Frau auf D als Klytai-
mnestra gefasst werden muss, braucht kaum noch ausdrücklich her-
vorgehoben zu werden.

Dass diese drei Vasen (A B D) auf dieselbe Komposition
zurückgehen oder, wie ich lieber sagen möchte, denselben Typus
repräsentieren, springt in die Augen, und zwar entfernt sich D,
die jüngste, am weitesten von dem ursprünglichen Typus und
hält nur die allgemeinsten Züge desselben fest; die beiden anderen
hingegen, von denen A augenscheinlich die ältere ist, stehen sich
und dem Original ziemlich nahe, und es fragt sich nur, wenn
beide von einander abweichen, welche von beiden die ursprüng-
lichen Züge treuer bewahrt hat. Es wiederholt sich hier eine
Erscheinung, welche die ganze bildliche Tradition durchzieht: ein-
zelne Züge sind in A, andere in B treuer bewahrt.

In der Darstellung der Hauptgruppe Orestes und Aigisthos
steht gewiss A dem Original am nächsten; denn die Bewegung
der linken Arme ist dort zweckmässig und verständlich, auf B
unklar und zwecklos; auch ist es gewiss natürlicher, dass Aigi-
sthos zunächst die Hand des Orestes von seinem Haupte zu ent-
fernen sucht und deshalb dessen rechten Arm umfasst. Hingegen
scheint auf B richtig der Fusstritt des Aigisthos das Knie des
Orestes zu treffen, während er auf A ins Leere geht. Dass Orestes
den Kopf umwendet und die drohende Gefahr bemerkt, ist gewiss
das glücklichere Motiv; allein auf A ist die Ursache dieser Be-
wegung dunkel, nur vermuten können wir, dass etwa das Ge-
räusch der Schritte und des Ringens zwischen Klytaimnestra und

der Hauptgruppe nur je eine Figur zulieſs, er konnte ihn weg-
lassen, weil er sowohl die Sagenversion als den künstlerischen
Typus derselben als so bekannt voraussetzen durfte, daſs dem
Beschauer über den Ausgang der Scene kein Zweifel blieb, daſs
derselbe vielmehr in der Phantasie im nächsten Augenblick den
Talthybios herbeispringen und dem Orestes Rettung bringen sah.
Was bei einer neugeschaffenen, selbständig erfundenen bildlichen
Darstellung ein grober, weil das Verständniſs aufhebender Fehler
wäre, ist bei einer als einzelnes Glied in der Reihe der bildlichen
Tradition stehenden Darstellung, wenn nicht unbedingt gestattet,
so doch verzeihlich. Daſs nun auch die Frau auf D als Klytai-
mnestra gefaſst werden muſs, braucht kaum noch ausdrücklich her-
vorgehoben zu werden.

Daſs diese drei Vasen (A B D) auf dieselbe Komposition
zurückgehen oder, wie ich lieber sagen möchte, denselben Typus
repräsentieren, springt in die Augen, und zwar entfernt sich D,
die jüngste, am weitesten von dem ursprünglichen Typus und
hält nur die allgemeinsten Züge desselben fest; die beiden anderen
hingegen, von denen A augenscheinlich die ältere ist, stehen sich
und dem Original ziemlich nahe, und es fragt sich nur, wenn
beide von einander abweichen, welche von beiden die ursprüng-
lichen Züge treuer bewahrt hat. Es wiederholt sich hier eine
Erscheinung, welche die ganze bildliche Tradition durchzieht: ein-
zelne Züge sind in A, andere in B treuer bewahrt.

In der Darstellung der Hauptgruppe Orestes und Aigisthos
steht gewiſs A dem Original am nächsten; denn die Bewegung
der linken Arme ist dort zweckmäſsig und verständlich, auf B
unklar und zwecklos; auch ist es gewiſs natürlicher, daſs Aigi-
sthos zunächst die Hand des Orestes von seinem Haupte zu ent-
fernen sucht und deshalb dessen rechten Arm umfaſst. Hingegen
scheint auf B richtig der Fuſstritt des Aigisthos das Knie des
Orestes zu treffen, während er auf A ins Leere geht. Daſs Orestes
den Kopf umwendet und die drohende Gefahr bemerkt, ist gewiſs
das glücklichere Motiv; allein auf A ist die Ursache dieser Be-
wegung dunkel, nur vermuten können wir, daſs etwa das Ge-
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[156/0170] der Hauptgruppe nur je eine Figur zulieſs, er konnte ihn weg- lassen, weil er sowohl die Sagenversion als den künstlerischen Typus derselben als so bekannt voraussetzen durfte, daſs dem Beschauer über den Ausgang der Scene kein Zweifel blieb, daſs derselbe vielmehr in der Phantasie im nächsten Augenblick den Talthybios herbeispringen und dem Orestes Rettung bringen sah. Was bei einer neugeschaffenen, selbständig erfundenen bildlichen Darstellung ein grober, weil das Verständniſs aufhebender Fehler wäre, ist bei einer als einzelnes Glied in der Reihe der bildlichen Tradition stehenden Darstellung, wenn nicht unbedingt gestattet, so doch verzeihlich. Daſs nun auch die Frau auf D als Klytai- mnestra gefaſst werden muſs, braucht kaum noch ausdrücklich her- vorgehoben zu werden. Daſs diese drei Vasen (A B D) auf dieselbe Komposition zurückgehen oder, wie ich lieber sagen möchte, denselben Typus repräsentieren, springt in die Augen, und zwar entfernt sich D, die jüngste, am weitesten von dem ursprünglichen Typus und hält nur die allgemeinsten Züge desselben fest; die beiden anderen hingegen, von denen A augenscheinlich die ältere ist, stehen sich und dem Original ziemlich nahe, und es fragt sich nur, wenn beide von einander abweichen, welche von beiden die ursprüng- lichen Züge treuer bewahrt hat. Es wiederholt sich hier eine Erscheinung, welche die ganze bildliche Tradition durchzieht: ein- zelne Züge sind in A, andere in B treuer bewahrt. In der Darstellung der Hauptgruppe Orestes und Aigisthos steht gewiſs A dem Original am nächsten; denn die Bewegung der linken Arme ist dort zweckmäſsig und verständlich, auf B unklar und zwecklos; auch ist es gewiſs natürlicher, daſs Aigi- sthos zunächst die Hand des Orestes von seinem Haupte zu ent- fernen sucht und deshalb dessen rechten Arm umfaſst. Hingegen scheint auf B richtig der Fuſstritt des Aigisthos das Knie des Orestes zu treffen, während er auf A ins Leere geht. Daſs Orestes den Kopf umwendet und die drohende Gefahr bemerkt, ist gewiſs das glücklichere Motiv; allein auf A ist die Ursache dieser Be- wegung dunkel, nur vermuten können wir, daſs etwa das Ge- räusch der Schritte und des Ringens zwischen Klytaimnestra und

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/170>, abgerufen am 24.11.2024.