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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Egyptisches.
das Sitzbrett am Stuhle nach rückwärts, und zwar alles dies schon in
der Kunst des Alten Reiches. Die Stricke, mit denen die Gefangenen
der thebanischen Pharaonen gefesselt erscheinen, endigen ebenso in
Lotusprofile, wie seit ältester Zeit die Schnäbel der Nilboote. Aus der-
selben Bedeutung heraus werden wir nunmehr auch die Lotuskapitäle
der Egypter zu erklären haben. Es bedarf hiezu gar nicht der her-
geholten Erklärungen, die man für die Lotuskelch- und Lotusknospen-
Kapitäle gesucht hat. Die Säule ist eben ursprünglich gar nicht eine
belastete Dachstütze, sondern ein frei endigender Pfosten (Zeltstange!), so
wie die palmettengekrönte griechische Stele. Dementsprechend ist das
Kapitäl ursprünglich ebenfalls nur Bekrönung und nichts als Bekrönung;
die Funktion des Vermittelns zwischen tragender Säule und lastendem
[Abbildung] Fig. 16.

Lotusblüthe in halber Vollansicht.
(egyptische Palmette.)

[Abbildung] Fig. 17.

Lotusblüthe in Profil
mit Volutenkelch.

Architrav ist erst viel später dem baukünstlerischen Sinn bewusst und
ein ästhetisch bedeutsamer Faktor geworden. Zum Ausdrucke der
freien Endigung trägt nun die Säule bei den Egyptern die Lotusblüthe
oder Knospe als Kapitäl: daher auch der Steinwürfel, der sich als
Kämpfer zwischen Kapitäl und Architrav einschiebt, sobald die Säule
zum Tragen bestimmt ist.

Die dritte Projektion, in der uns die Lotusblüthe auf den alt-
egyptischen Denkmälern entgegentritt, ist die halbe Vollansicht
(Fig. 16). Wir vermögen daran drei distinkte Theile zu unterscheiden:
einen unteren, der am Ansatz durch eine von der Lotusblüthe in Profil
(Fig. 7) entlehnte Blatthülse (a) bezeichnet ist und nach oben in zwei
divergirende Voluten (b) ausläuft, in deren äusseren Zwickeln je ein
kleiner tropfenförmiger Ansatz (c) sichtbar ist, -- einen mittleren in Form

1. Egyptisches.
das Sitzbrett am Stuhle nach rückwärts, und zwar alles dies schon in
der Kunst des Alten Reiches. Die Stricke, mit denen die Gefangenen
der thebanischen Pharaonen gefesselt erscheinen, endigen ebenso in
Lotusprofile, wie seit ältester Zeit die Schnäbel der Nilboote. Aus der-
selben Bedeutung heraus werden wir nunmehr auch die Lotuskapitäle
der Egypter zu erklären haben. Es bedarf hiezu gar nicht der her-
geholten Erklärungen, die man für die Lotuskelch- und Lotusknospen-
Kapitäle gesucht hat. Die Säule ist eben ursprünglich gar nicht eine
belastete Dachstütze, sondern ein frei endigender Pfosten (Zeltstange!), so
wie die palmettengekrönte griechische Stele. Dementsprechend ist das
Kapitäl ursprünglich ebenfalls nur Bekrönung und nichts als Bekrönung;
die Funktion des Vermittelns zwischen tragender Säule und lastendem
[Abbildung] Fig. 16.

Lotusblüthe in halber Vollansicht.
(egyptische Palmette.)

[Abbildung] Fig. 17.

Lotusblüthe in Profil
mit Volutenkelch.

Architrav ist erst viel später dem baukünstlerischen Sinn bewusst und
ein ästhetisch bedeutsamer Faktor geworden. Zum Ausdrucke der
freien Endigung trägt nun die Säule bei den Egyptern die Lotusblüthe
oder Knospe als Kapitäl: daher auch der Steinwürfel, der sich als
Kämpfer zwischen Kapitäl und Architrav einschiebt, sobald die Säule
zum Tragen bestimmt ist.

Die dritte Projektion, in der uns die Lotusblüthe auf den alt-
egyptischen Denkmälern entgegentritt, ist die halbe Vollansicht
(Fig. 16). Wir vermögen daran drei distinkte Theile zu unterscheiden:
einen unteren, der am Ansatz durch eine von der Lotusblüthe in Profil
(Fig. 7) entlehnte Blatthülse (a) bezeichnet ist und nach oben in zwei
divergirende Voluten (b) ausläuft, in deren äusseren Zwickeln je ein
kleiner tropfenförmiger Ansatz (c) sichtbar ist, — einen mittleren in Form

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[59/0085] 1. Egyptisches. das Sitzbrett am Stuhle nach rückwärts, und zwar alles dies schon in der Kunst des Alten Reiches. Die Stricke, mit denen die Gefangenen der thebanischen Pharaonen gefesselt erscheinen, endigen ebenso in Lotusprofile, wie seit ältester Zeit die Schnäbel der Nilboote. Aus der- selben Bedeutung heraus werden wir nunmehr auch die Lotuskapitäle der Egypter zu erklären haben. Es bedarf hiezu gar nicht der her- geholten Erklärungen, die man für die Lotuskelch- und Lotusknospen- Kapitäle gesucht hat. Die Säule ist eben ursprünglich gar nicht eine belastete Dachstütze, sondern ein frei endigender Pfosten (Zeltstange!), so wie die palmettengekrönte griechische Stele. Dementsprechend ist das Kapitäl ursprünglich ebenfalls nur Bekrönung und nichts als Bekrönung; die Funktion des Vermittelns zwischen tragender Säule und lastendem [Abbildung Fig. 16. Lotusblüthe in halber Vollansicht. (egyptische Palmette.)] [Abbildung Fig. 17. Lotusblüthe in Profil mit Volutenkelch.] Architrav ist erst viel später dem baukünstlerischen Sinn bewusst und ein ästhetisch bedeutsamer Faktor geworden. Zum Ausdrucke der freien Endigung trägt nun die Säule bei den Egyptern die Lotusblüthe oder Knospe als Kapitäl: daher auch der Steinwürfel, der sich als Kämpfer zwischen Kapitäl und Architrav einschiebt, sobald die Säule zum Tragen bestimmt ist. Die dritte Projektion, in der uns die Lotusblüthe auf den alt- egyptischen Denkmälern entgegentritt, ist die halbe Vollansicht (Fig. 16). Wir vermögen daran drei distinkte Theile zu unterscheiden: einen unteren, der am Ansatz durch eine von der Lotusblüthe in Profil (Fig. 7) entlehnte Blatthülse (a) bezeichnet ist und nach oben in zwei divergirende Voluten (b) ausläuft, in deren äusseren Zwickeln je ein kleiner tropfenförmiger Ansatz (c) sichtbar ist, — einen mittleren in Form

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/85>, abgerufen am 23.11.2024.