Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst. von den Füllhörnern einer nach bekannten römischen Mustern ent-worfenen Borde Ranken ausgehen, die sich gabeln und in symmetrischer Paarung in ähnlicher Weise zu gesprengten Vollpalmetten zusammen- treten, wie wir es an Fig. 145 beobachtet haben. Der andere Arm der Gabelranke aber dient im weiteren Laufe als Stiel für eine Knospe oder ein fächerähnliches Blatt. Unter je zwei Füllhörnern befindet sich eine Palmette, die von zwei blattartig behandelten Ranken ge- tragen wird, worin sich das gleiche Princip des Aufgehens der Selb- ständigkeit des Blattes in der Ranke auszudrücken scheint. Der antinaturalistische Zug, der in den geschilderten maassgeben- [Abbildung]
Fig. 154. Fig. 155. ist. Aber es musste dem bezüglichen ornamentgeschichtlichen ProcesseVon der Mosaikverzierung der Sophienkirche in Konstantinopel. gerade auf dem Boden des byzantinischen Reiches ein ganz besonders günstiger Umstand zu Statten gekommen sein, der eine so rasche Ent- wicklung schon in frühbyzantinischer Zeit, wovon wir oben so viele Zeugnisse kennen gelernt haben, ganz wesentlich begünstigt haben mochte. Diesen Umstand bin ich geneigt darin zu erblicken, dass die Kunst im Osten des Mittelmeerbeckens auch während der römischen Kaiserzeit vielfach an den strengeren Typen der hellenischen Ranken- ornamentik festgehalten zu haben scheint. Wie wäre es sonst möglich, dass gerade die blattlose, sozusagen abstrakte, intermittirende Wellen- ranke, sowie die gesprengte Palmette eine so vorwiegende Stellung in der frühbyzantinischen Ornamentik eingenommen haben. Noch im 12. Jahrh. begegnen uns hievon in Konstantinopel so typische Beispiele, wie Fig. 156 von der Pantokratorkirche (nach Pulgher X. 4). Vgl. u. a. die Deckplatte des Kapitäls aus St. Sophia zu Saloniki, bei Texier und Poplewell, Architekt. byzant. Taf. 39, links mit den liegenden S-Spiralen und in die Zwickelkelche eingesetzten Lotusblüthen, ganz Riegl, Stilfragen. 19
1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst. von den Füllhörnern einer nach bekannten römischen Mustern ent-worfenen Borde Ranken ausgehen, die sich gabeln und in symmetrischer Paarung in ähnlicher Weise zu gesprengten Vollpalmetten zusammen- treten, wie wir es an Fig. 145 beobachtet haben. Der andere Arm der Gabelranke aber dient im weiteren Laufe als Stiel für eine Knospe oder ein fächerähnliches Blatt. Unter je zwei Füllhörnern befindet sich eine Palmette, die von zwei blattartig behandelten Ranken ge- tragen wird, worin sich das gleiche Princip des Aufgehens der Selb- ständigkeit des Blattes in der Ranke auszudrücken scheint. Der antinaturalistische Zug, der in den geschilderten maassgeben- [Abbildung]
Fig. 154. Fig. 155. ist. Aber es musste dem bezüglichen ornamentgeschichtlichen ProcesseVon der Mosaikverzierung der Sophienkirche in Konstantinopel. gerade auf dem Boden des byzantinischen Reiches ein ganz besonders günstiger Umstand zu Statten gekommen sein, der eine so rasche Ent- wicklung schon in frühbyzantinischer Zeit, wovon wir oben so viele Zeugnisse kennen gelernt haben, ganz wesentlich begünstigt haben mochte. Diesen Umstand bin ich geneigt darin zu erblicken, dass die Kunst im Osten des Mittelmeerbeckens auch während der römischen Kaiserzeit vielfach an den strengeren Typen der hellenischen Ranken- ornamentik festgehalten zu haben scheint. Wie wäre es sonst möglich, dass gerade die blattlose, sozusagen abstrakte, intermittirende Wellen- ranke, sowie die gesprengte Palmette eine so vorwiegende Stellung in der frühbyzantinischen Ornamentik eingenommen haben. Noch im 12. Jahrh. begegnen uns hievon in Konstantinopel so typische Beispiele, wie Fig. 156 von der Pantokratorkirche (nach Pulgher X. 4). Vgl. u. a. die Deckplatte des Kapitäls aus St. Sophia zu Saloniki, bei Texier und Poplewell, Architekt. byzant. Taf. 39, links mit den liegenden S-Spiralen und in die Zwickelkelche eingesetzten Lotusblüthen, ganz Riegl, Stilfragen. 19
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0315" n="289"/><fw place="top" type="header">1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.</fw><lb/> von den Füllhörnern einer nach bekannten römischen Mustern ent-<lb/> worfenen Borde Ranken ausgehen, die sich gabeln und in symmetrischer<lb/> Paarung in ähnlicher Weise zu gesprengten Vollpalmetten zusammen-<lb/> treten, wie wir es an Fig. 145 beobachtet haben. Der andere Arm der<lb/> Gabelranke aber dient im weiteren Laufe als Stiel für eine Knospe<lb/> oder ein fächerähnliches Blatt. Unter je zwei Füllhörnern befindet<lb/> sich eine Palmette, die von zwei blattartig behandelten Ranken ge-<lb/> tragen wird, worin sich das gleiche Princip des Aufgehens der Selb-<lb/> ständigkeit des Blattes in der Ranke auszudrücken scheint.</p><lb/> <p>Der antinaturalistische Zug, der in den geschilderten maassgeben-<lb/> den Leitgrundsätzen des byzantinischen Kunstschaffens seinen unver-<lb/> kennbaren Ausdruck fand, war gewiss das Resultat tiefgreifender Kultur-<lb/> vorgänge, worüber Einiges bereits andeutungsweise vorgebracht worden<lb/><figure><head>Fig. 154. Fig. 155.</head><lb/><p>Von der Mosaikverzierung der Sophienkirche in Konstantinopel.</p></figure><lb/> ist. Aber es musste dem bezüglichen ornamentgeschichtlichen Processe<lb/> gerade auf dem Boden des byzantinischen Reiches ein ganz besonders<lb/> günstiger Umstand zu Statten gekommen sein, der eine so rasche Ent-<lb/> wicklung schon in frühbyzantinischer Zeit, wovon wir oben so viele<lb/> Zeugnisse kennen gelernt haben, ganz wesentlich begünstigt haben<lb/> mochte. Diesen Umstand bin ich geneigt darin zu erblicken, dass die<lb/> Kunst im Osten des Mittelmeerbeckens auch während der römischen<lb/> Kaiserzeit vielfach an den strengeren Typen der hellenischen Ranken-<lb/> ornamentik festgehalten zu haben scheint. Wie wäre es sonst möglich,<lb/> dass gerade die blattlose, sozusagen abstrakte, intermittirende Wellen-<lb/> ranke, sowie die gesprengte Palmette eine so vorwiegende Stellung in der<lb/> frühbyzantinischen Ornamentik eingenommen haben. Noch im 12. Jahrh.<lb/> begegnen uns hievon in Konstantinopel so typische Beispiele, wie<lb/> Fig. 156 von der Pantokratorkirche (nach Pulgher X. 4). Vgl. u. a.<lb/> die Deckplatte des Kapitäls aus St. Sophia zu Saloniki, bei Texier<lb/> und Poplewell, Architekt. byzant. Taf. 39, links mit den liegenden<lb/> S-Spiralen und in die Zwickelkelche eingesetzten Lotusblüthen, ganz<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Riegl</hi>, Stilfragen. 19</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [289/0315]
1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
von den Füllhörnern einer nach bekannten römischen Mustern ent-
worfenen Borde Ranken ausgehen, die sich gabeln und in symmetrischer
Paarung in ähnlicher Weise zu gesprengten Vollpalmetten zusammen-
treten, wie wir es an Fig. 145 beobachtet haben. Der andere Arm der
Gabelranke aber dient im weiteren Laufe als Stiel für eine Knospe
oder ein fächerähnliches Blatt. Unter je zwei Füllhörnern befindet
sich eine Palmette, die von zwei blattartig behandelten Ranken ge-
tragen wird, worin sich das gleiche Princip des Aufgehens der Selb-
ständigkeit des Blattes in der Ranke auszudrücken scheint.
Der antinaturalistische Zug, der in den geschilderten maassgeben-
den Leitgrundsätzen des byzantinischen Kunstschaffens seinen unver-
kennbaren Ausdruck fand, war gewiss das Resultat tiefgreifender Kultur-
vorgänge, worüber Einiges bereits andeutungsweise vorgebracht worden
[Abbildung Fig. 154. Fig. 155.
Von der Mosaikverzierung der Sophienkirche in Konstantinopel.]
ist. Aber es musste dem bezüglichen ornamentgeschichtlichen Processe
gerade auf dem Boden des byzantinischen Reiches ein ganz besonders
günstiger Umstand zu Statten gekommen sein, der eine so rasche Ent-
wicklung schon in frühbyzantinischer Zeit, wovon wir oben so viele
Zeugnisse kennen gelernt haben, ganz wesentlich begünstigt haben
mochte. Diesen Umstand bin ich geneigt darin zu erblicken, dass die
Kunst im Osten des Mittelmeerbeckens auch während der römischen
Kaiserzeit vielfach an den strengeren Typen der hellenischen Ranken-
ornamentik festgehalten zu haben scheint. Wie wäre es sonst möglich,
dass gerade die blattlose, sozusagen abstrakte, intermittirende Wellen-
ranke, sowie die gesprengte Palmette eine so vorwiegende Stellung in der
frühbyzantinischen Ornamentik eingenommen haben. Noch im 12. Jahrh.
begegnen uns hievon in Konstantinopel so typische Beispiele, wie
Fig. 156 von der Pantokratorkirche (nach Pulgher X. 4). Vgl. u. a.
die Deckplatte des Kapitäls aus St. Sophia zu Saloniki, bei Texier
und Poplewell, Architekt. byzant. Taf. 39, links mit den liegenden
S-Spiralen und in die Zwickelkelche eingesetzten Lotusblüthen, ganz
Riegl, Stilfragen. 19
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |