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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
schiedenen Stengeln aus. Auch dies entspricht nicht dem Vorgange
in der Natur, wo jede Blüthe ihren eigenen einzigen Stengel besitzt.
Wir haben somit einen neuerlichen antinaturalistischen Zug zu ver-
zeichnen, der für die Arabeske geradezu charakteristisch geworden
ist. Betrachten wir doch daraufhin noch einmal Fig. 139. Links sehen
wir die Gabelranken wiederholt zu kielbogenartigen Konfigurationen
zusammentreten, wie es eben der Bewegung der beiden Hälften einer
gesprengten Palmette entspricht. Noch deutlicher prägt sich dies in
der Ecklösung rechts unten in Fig. 139 aus. Hier laufen die Gabel-
ranken von zwei verschiedenen Seiten her zusammen und bilden einen
Kielbogen, an den sich erst noch ein Dreiblatt als freie Endigung an-
schliesst. Haben wir es nun auch an Fig. 145 noch nicht mit Gabel-
ranken zu thun, weil die Schematisirung der vegetabilischen Einzel-
motive im 6. Jahrh. noch nicht entsprechend fortgeschritten gewesen
ist, so ist doch die Neigung, zwei selbständige Halbmotive zu einem
Vollmotiv unter einem geschweiften Winkel zusammen treten zu lassen,
bereits unverkennbar. Den Anknüpfungspunkt an das Frühere, Helle-
nistisch-römische, bietet hinsichtlich der geschweiften Berührungswinkel
die gesprengte Palmette, ferner pompejanische Beispiele gleich Fig. 152,
hinsichtlich des Zusammenlaufens der (kelchbildenden) Rankenstengel
von verschiedenen Seiten her schüchterne Vorläufer gleich der oberen
centralen und den seitlichen umschriebenen Palmetten in Fig. 125.

Der Volutenkelch der Halbpalmetten in Fig. 145 ist wiederum auf
einen fleischigen Blattkelch reducirt; hiebei ist überaus bezeichnend
für die folgende Entwicklung der Umstand, dass die Kelchbildung im
Stein durch eine runde Vertiefung mittels des Bohrers erfolgt ist: ein
technischer Process, den sich späterhin auch die Saracenen angeeignet
haben.

Das unter der beschriebenen Bogenleibung befindliche Kapitäl
zeigt in der Mitte kreisrunde Einrollungen von Ranken, an die sich
seitwärts lange geschwungene Halbpalmetten des gesprengten Typus,
innen in den Einrollungen Ableger des Akanthusblattes ähnlich Fig. 143
ansetzen. Die in einander verschlungenen Kreise als Flächenmuster,
grosse mit kleinen alternirend, kennen wir aus der römisch-altchrist-
lichen Kunst, wo sie in die Ornamentklasse der Bandverschlingungen
einzureihen sind. Dass die Byzantiner dieses Ornament mit besonderer
Vorliebe gepflegt haben, wurde schon erwähnt (S. 268). Die Fortbil-
dung, die die Saracenen daran geknüpft haben, hatte zur Voraussetzung
eine freiere Benutzung der Bänder. Sowie in der Rankenführung sind

1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst.
schiedenen Stengeln aus. Auch dies entspricht nicht dem Vorgange
in der Natur, wo jede Blüthe ihren eigenen einzigen Stengel besitzt.
Wir haben somit einen neuerlichen antinaturalistischen Zug zu ver-
zeichnen, der für die Arabeske geradezu charakteristisch geworden
ist. Betrachten wir doch daraufhin noch einmal Fig. 139. Links sehen
wir die Gabelranken wiederholt zu kielbogenartigen Konfigurationen
zusammentreten, wie es eben der Bewegung der beiden Hälften einer
gesprengten Palmette entspricht. Noch deutlicher prägt sich dies in
der Ecklösung rechts unten in Fig. 139 aus. Hier laufen die Gabel-
ranken von zwei verschiedenen Seiten her zusammen und bilden einen
Kielbogen, an den sich erst noch ein Dreiblatt als freie Endigung an-
schliesst. Haben wir es nun auch an Fig. 145 noch nicht mit Gabel-
ranken zu thun, weil die Schematisirung der vegetabilischen Einzel-
motive im 6. Jahrh. noch nicht entsprechend fortgeschritten gewesen
ist, so ist doch die Neigung, zwei selbständige Halbmotive zu einem
Vollmotiv unter einem geschweiften Winkel zusammen treten zu lassen,
bereits unverkennbar. Den Anknüpfungspunkt an das Frühere, Helle-
nistisch-römische, bietet hinsichtlich der geschweiften Berührungswinkel
die gesprengte Palmette, ferner pompejanische Beispiele gleich Fig. 152,
hinsichtlich des Zusammenlaufens der (kelchbildenden) Rankenstengel
von verschiedenen Seiten her schüchterne Vorläufer gleich der oberen
centralen und den seitlichen umschriebenen Palmetten in Fig. 125.

Der Volutenkelch der Halbpalmetten in Fig. 145 ist wiederum auf
einen fleischigen Blattkelch reducirt; hiebei ist überaus bezeichnend
für die folgende Entwicklung der Umstand, dass die Kelchbildung im
Stein durch eine runde Vertiefung mittels des Bohrers erfolgt ist: ein
technischer Process, den sich späterhin auch die Saracenen angeeignet
haben.

Das unter der beschriebenen Bogenleibung befindliche Kapitäl
zeigt in der Mitte kreisrunde Einrollungen von Ranken, an die sich
seitwärts lange geschwungene Halbpalmetten des gesprengten Typus,
innen in den Einrollungen Ableger des Akanthusblattes ähnlich Fig. 143
ansetzen. Die in einander verschlungenen Kreise als Flächenmuster,
grosse mit kleinen alternirend, kennen wir aus der römisch-altchrist-
lichen Kunst, wo sie in die Ornamentklasse der Bandverschlingungen
einzureihen sind. Dass die Byzantiner dieses Ornament mit besonderer
Vorliebe gepflegt haben, wurde schon erwähnt (S. 268). Die Fortbil-
dung, die die Saracenen daran geknüpft haben, hatte zur Voraussetzung
eine freiere Benutzung der Bänder. Sowie in der Rankenführung sind

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[285/0311] 1. Das Pflanzenrankenornament in der byzantinischen Kunst. schiedenen Stengeln aus. Auch dies entspricht nicht dem Vorgange in der Natur, wo jede Blüthe ihren eigenen einzigen Stengel besitzt. Wir haben somit einen neuerlichen antinaturalistischen Zug zu ver- zeichnen, der für die Arabeske geradezu charakteristisch geworden ist. Betrachten wir doch daraufhin noch einmal Fig. 139. Links sehen wir die Gabelranken wiederholt zu kielbogenartigen Konfigurationen zusammentreten, wie es eben der Bewegung der beiden Hälften einer gesprengten Palmette entspricht. Noch deutlicher prägt sich dies in der Ecklösung rechts unten in Fig. 139 aus. Hier laufen die Gabel- ranken von zwei verschiedenen Seiten her zusammen und bilden einen Kielbogen, an den sich erst noch ein Dreiblatt als freie Endigung an- schliesst. Haben wir es nun auch an Fig. 145 noch nicht mit Gabel- ranken zu thun, weil die Schematisirung der vegetabilischen Einzel- motive im 6. Jahrh. noch nicht entsprechend fortgeschritten gewesen ist, so ist doch die Neigung, zwei selbständige Halbmotive zu einem Vollmotiv unter einem geschweiften Winkel zusammen treten zu lassen, bereits unverkennbar. Den Anknüpfungspunkt an das Frühere, Helle- nistisch-römische, bietet hinsichtlich der geschweiften Berührungswinkel die gesprengte Palmette, ferner pompejanische Beispiele gleich Fig. 152, hinsichtlich des Zusammenlaufens der (kelchbildenden) Rankenstengel von verschiedenen Seiten her schüchterne Vorläufer gleich der oberen centralen und den seitlichen umschriebenen Palmetten in Fig. 125. Der Volutenkelch der Halbpalmetten in Fig. 145 ist wiederum auf einen fleischigen Blattkelch reducirt; hiebei ist überaus bezeichnend für die folgende Entwicklung der Umstand, dass die Kelchbildung im Stein durch eine runde Vertiefung mittels des Bohrers erfolgt ist: ein technischer Process, den sich späterhin auch die Saracenen angeeignet haben. Das unter der beschriebenen Bogenleibung befindliche Kapitäl zeigt in der Mitte kreisrunde Einrollungen von Ranken, an die sich seitwärts lange geschwungene Halbpalmetten des gesprengten Typus, innen in den Einrollungen Ableger des Akanthusblattes ähnlich Fig. 143 ansetzen. Die in einander verschlungenen Kreise als Flächenmuster, grosse mit kleinen alternirend, kennen wir aus der römisch-altchrist- lichen Kunst, wo sie in die Ornamentklasse der Bandverschlingungen einzureihen sind. Dass die Byzantiner dieses Ornament mit besonderer Vorliebe gepflegt haben, wurde schon erwähnt (S. 268). Die Fortbil- dung, die die Saracenen daran geknüpft haben, hatte zur Voraussetzung eine freiere Benutzung der Bänder. Sowie in der Rankenführung sind

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/311>, abgerufen am 29.11.2024.