10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Kopf, häufig aber auch eine ganze Figur den Mittelpunkt der Deko- ration bildet, wodurch sich dann auch die Heranziehung des plastisch- perspektivischen Akanthus rechtfertigt. Untersuchen wir nun vorerst einmal
a. Die flache Palmetten-Ranke.
Was uns an Fig. 12552) entgegentritt, ist im Grunde nichts anderes, als ein von den attischen Vasen des 5. Jahrh. her wohlbekanntes System von Palmettengeranke: unten eine grosse Palmette, umschrieben von zwei Rankenlinien, die sich über dem Scheitel der Palmette in wellenförmigen Schwingungen nach rechts und links symmetrisch aus- breiten, die zahlreichen, hierdurch entstehenden Zwickel gefüllt mit ganzen Palmetten, Halbpalmetten und Fächer-Ausschnitten. Und doch lassen sich bei näherem Zusehen einige Eigenthümlichkeiten beobachten, die den attischen Palmettenranken des 5. Jahrh. theils gar nicht, theils nur in weit minderem Grade eigen gewesen sind.
Für's Erste die sorgfältige Raumausfüllung. Die Einzelmotive erscheinen so nahe an einander gerückt, dass es unmöglich ist zu ver- kennen, dass der Vasenmaler möglichst wenig schwarzen Grund frei- lassen wollte. Den attischen Vasen mindestens der Zeit vor dem peloponnesischen Kriege war ein solcher Horror vacui fremd. Wie haben wir uns diese neue Erscheinung zu erklären? Offenbar aus dem gleichen Grunde, der die analoge Erscheinung im Dipylonstil u. s. w. zur Folge gehabt hat. Ein neuerliches, vermehrtes Schmuckbedürfniss, ein langsam, aber mit Macht vordrängender dekorativer Zug verräth sich augenscheinlich in dieser Sucht, den Grund möglichst ausgiebig mit Zierformen zu mustern. Dies entspricht denn auch dem allgemeinen Charakter der hellenistischen Kunst. Der Zug zur Darstellung des Gegenständlichen, der die griechische Kunst etwa bis in die perikleische Zeit charakterisirt, das überwiegende Streben nach Bemeisterung der menschlichen Körperformen, nach Versinnlichung der das Hellenen- thum bewegenden religiösen, sittlichen und politischen Ideen: damit war man im letzten Drittel des 5. Jahrh. auf einen Höhepunkt ge- langt, von dem aus es kaum mehr eine Steigerung gab. Nun regte sich wieder die Schmuckfreudigkeit, drängte es wieder nach dem anderen der beiden Pole, zwischen denen sich alles Kunstschaffen be- wegt. Der hohen und erhabenen Typen waren genug geschaffen, um Herz und Auge daran zu erfreuen. Die pompejanische Innendekoration
52) Nach Owen Jones, Taf. XIX. 7.
Riegl, Stilfragen. 16
10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Kopf, häufig aber auch eine ganze Figur den Mittelpunkt der Deko- ration bildet, wodurch sich dann auch die Heranziehung des plastisch- perspektivischen Akanthus rechtfertigt. Untersuchen wir nun vorerst einmal
a. Die flache Palmetten-Ranke.
Was uns an Fig. 12552) entgegentritt, ist im Grunde nichts anderes, als ein von den attischen Vasen des 5. Jahrh. her wohlbekanntes System von Palmettengeranke: unten eine grosse Palmette, umschrieben von zwei Rankenlinien, die sich über dem Scheitel der Palmette in wellenförmigen Schwingungen nach rechts und links symmetrisch aus- breiten, die zahlreichen, hierdurch entstehenden Zwickel gefüllt mit ganzen Palmetten, Halbpalmetten und Fächer-Ausschnitten. Und doch lassen sich bei näherem Zusehen einige Eigenthümlichkeiten beobachten, die den attischen Palmettenranken des 5. Jahrh. theils gar nicht, theils nur in weit minderem Grade eigen gewesen sind.
Für’s Erste die sorgfältige Raumausfüllung. Die Einzelmotive erscheinen so nahe an einander gerückt, dass es unmöglich ist zu ver- kennen, dass der Vasenmaler möglichst wenig schwarzen Grund frei- lassen wollte. Den attischen Vasen mindestens der Zeit vor dem peloponnesischen Kriege war ein solcher Horror vacui fremd. Wie haben wir uns diese neue Erscheinung zu erklären? Offenbar aus dem gleichen Grunde, der die analoge Erscheinung im Dipylonstil u. s. w. zur Folge gehabt hat. Ein neuerliches, vermehrtes Schmuckbedürfniss, ein langsam, aber mit Macht vordrängender dekorativer Zug verräth sich augenscheinlich in dieser Sucht, den Grund möglichst ausgiebig mit Zierformen zu mustern. Dies entspricht denn auch dem allgemeinen Charakter der hellenistischen Kunst. Der Zug zur Darstellung des Gegenständlichen, der die griechische Kunst etwa bis in die perikleische Zeit charakterisirt, das überwiegende Streben nach Bemeisterung der menschlichen Körperformen, nach Versinnlichung der das Hellenen- thum bewegenden religiösen, sittlichen und politischen Ideen: damit war man im letzten Drittel des 5. Jahrh. auf einen Höhepunkt ge- langt, von dem aus es kaum mehr eine Steigerung gab. Nun regte sich wieder die Schmuckfreudigkeit, drängte es wieder nach dem anderen der beiden Pole, zwischen denen sich alles Kunstschaffen be- wegt. Der hohen und erhabenen Typen waren genug geschaffen, um Herz und Auge daran zu erfreuen. Die pompejanische Innendekoration
52) Nach Owen Jones, Taf. XIX. 7.
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10. Das hellenistische und römische Pflanzenrankenornament.
Kopf, häufig aber auch eine ganze Figur den Mittelpunkt der Deko-
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perspektivischen Akanthus rechtfertigt. Untersuchen wir nun vorerst
einmal
a. Die flache Palmetten-Ranke.
Was uns an Fig. 125 52) entgegentritt, ist im Grunde nichts anderes,
als ein von den attischen Vasen des 5. Jahrh. her wohlbekanntes
System von Palmettengeranke: unten eine grosse Palmette, umschrieben
von zwei Rankenlinien, die sich über dem Scheitel der Palmette in
wellenförmigen Schwingungen nach rechts und links symmetrisch aus-
breiten, die zahlreichen, hierdurch entstehenden Zwickel gefüllt mit
ganzen Palmetten, Halbpalmetten und Fächer-Ausschnitten. Und doch
lassen sich bei näherem Zusehen einige Eigenthümlichkeiten beobachten,
die den attischen Palmettenranken des 5. Jahrh. theils gar nicht,
theils nur in weit minderem Grade eigen gewesen sind.
Für’s Erste die sorgfältige Raumausfüllung. Die Einzelmotive
erscheinen so nahe an einander gerückt, dass es unmöglich ist zu ver-
kennen, dass der Vasenmaler möglichst wenig schwarzen Grund frei-
lassen wollte. Den attischen Vasen mindestens der Zeit vor dem
peloponnesischen Kriege war ein solcher Horror vacui fremd. Wie
haben wir uns diese neue Erscheinung zu erklären? Offenbar aus dem
gleichen Grunde, der die analoge Erscheinung im Dipylonstil u. s. w.
zur Folge gehabt hat. Ein neuerliches, vermehrtes Schmuckbedürfniss,
ein langsam, aber mit Macht vordrängender dekorativer Zug verräth
sich augenscheinlich in dieser Sucht, den Grund möglichst ausgiebig
mit Zierformen zu mustern. Dies entspricht denn auch dem allgemeinen
Charakter der hellenistischen Kunst. Der Zug zur Darstellung des
Gegenständlichen, der die griechische Kunst etwa bis in die perikleische
Zeit charakterisirt, das überwiegende Streben nach Bemeisterung der
menschlichen Körperformen, nach Versinnlichung der das Hellenen-
thum bewegenden religiösen, sittlichen und politischen Ideen: damit
war man im letzten Drittel des 5. Jahrh. auf einen Höhepunkt ge-
langt, von dem aus es kaum mehr eine Steigerung gab. Nun regte
sich wieder die Schmuckfreudigkeit, drängte es wieder nach dem
anderen der beiden Pole, zwischen denen sich alles Kunstschaffen be-
wegt. Der hohen und erhabenen Typen waren genug geschaffen, um
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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/267>, abgerufen am 03.03.2025.
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