Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. leider so gut wie Nichts erhalten. Wir müssen die einzelnen Stückemühsam zusammensuchen, aus denen wir uns die Vollendung des Ent- wicklungsprocesses der griechischen Pflanzenranke zu rekonstruiren vermögen. Ein vortreffliches Beispiel für die Dekoration des ganzen Bauches einer Vase mittels des Rankenornaments bietet die Nikopol- Vase in der Eremitage Fig. 12147). Wir sehen hier nur eine Seite der Vase; auf der anderen Seite ist die Dekoration eine völlig ähnliche. Der Figurenfries der attischen Vasen des 5. Jahrh. ist hier auf ein schmales Schulterband beschränkt; den weitaus grössten Theil der Ober- fläche füllt das Rankenwerk. Unten gewahren wir einen Kelch von drei Akanthusblättern: einem vollen en face zwischen zwei halben in Profilansicht. Aus dem Kelche steigen zwei Rankenstengel empor und verbreiten sich in symmetrischer Weise, indem sie in undulirender Be- wegung dem oberen Rande zustreben. Der Akanthus kommt auch an den Ranken wiederholt vor; als plastische Halbpalmette dient er da zur Hülse der Rankengabelungen und zum Kelch der Lotusblüthen und Palmetten: also in der schon am Erechtheion festgestellten Stilisirung und Funktion. Neben den plastisch-perspektivischen Halbpalmetten begegnen wir aber auch den traditionellen flach-abstrakten; sie sind geschwungen und zum Theil von dem gesprengten Palmettentypus ent- lehnt. Auch die Blüthenformen sind mehrfach die alten flachen Pal- metten, zum Theil zeigen sie aber Neigung zu perspektivischer Bildung und naturalisirenden Zuthaten. Dieses Nebeneinander von flach-abstrak- ten und plastisch-perspektivischen Formen scheint für die hellenistische Ornamentik besonders charakteristisch gewesen zu sein, da es sich auch an den Halsverzierungen der unteritalischen Vasen überaus häufig beob- achten lässt. -- An der Nikopol-Vase wären ausserdem noch besonders zu vermerken die eingestreuten Vögel, die als leichtschwebende Lebe- wesen zu solchem Zwecke besonders geeignet waren, und mit halbent- falteten Flügeln dargestellt erscheinen. Die elegante Bewegung der Ranken ist anscheinend völlig frei; die trotzdem eingehaltene Sym- metrie macht sich dem Auge nicht vordringlich bemerkbar. Die griechische Kunst hatte aber nicht umsonst Jahrhunderte hin- 47) Nach Stephani Compte rendu 1864, Taf. 1.
B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. leider so gut wie Nichts erhalten. Wir müssen die einzelnen Stückemühsam zusammensuchen, aus denen wir uns die Vollendung des Ent- wicklungsprocesses der griechischen Pflanzenranke zu rekonstruiren vermögen. Ein vortreffliches Beispiel für die Dekoration des ganzen Bauches einer Vase mittels des Rankenornaments bietet die Nikopol- Vase in der Eremitage Fig. 12147). Wir sehen hier nur eine Seite der Vase; auf der anderen Seite ist die Dekoration eine völlig ähnliche. Der Figurenfries der attischen Vasen des 5. Jahrh. ist hier auf ein schmales Schulterband beschränkt; den weitaus grössten Theil der Ober- fläche füllt das Rankenwerk. Unten gewahren wir einen Kelch von drei Akanthusblättern: einem vollen en face zwischen zwei halben in Profilansicht. Aus dem Kelche steigen zwei Rankenstengel empor und verbreiten sich in symmetrischer Weise, indem sie in undulirender Be- wegung dem oberen Rande zustreben. Der Akanthus kommt auch an den Ranken wiederholt vor; als plastische Halbpalmette dient er da zur Hülse der Rankengabelungen und zum Kelch der Lotusblüthen und Palmetten: also in der schon am Erechtheion festgestellten Stilisirung und Funktion. Neben den plastisch-perspektivischen Halbpalmetten begegnen wir aber auch den traditionellen flach-abstrakten; sie sind geschwungen und zum Theil von dem gesprengten Palmettentypus ent- lehnt. Auch die Blüthenformen sind mehrfach die alten flachen Pal- metten, zum Theil zeigen sie aber Neigung zu perspektivischer Bildung und naturalisirenden Zuthaten. Dieses Nebeneinander von flach-abstrak- ten und plastisch-perspektivischen Formen scheint für die hellenistische Ornamentik besonders charakteristisch gewesen zu sein, da es sich auch an den Halsverzierungen der unteritalischen Vasen überaus häufig beob- achten lässt. — An der Nikopol-Vase wären ausserdem noch besonders zu vermerken die eingestreuten Vögel, die als leichtschwebende Lebe- wesen zu solchem Zwecke besonders geeignet waren, und mit halbent- falteten Flügeln dargestellt erscheinen. Die elegante Bewegung der Ranken ist anscheinend völlig frei; die trotzdem eingehaltene Sym- metrie macht sich dem Auge nicht vordringlich bemerkbar. Die griechische Kunst hatte aber nicht umsonst Jahrhunderte hin- 47) Nach Stephani Compte rendu 1864, Taf. 1.
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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
leider so gut wie Nichts erhalten. Wir müssen die einzelnen Stücke
mühsam zusammensuchen, aus denen wir uns die Vollendung des Ent-
wicklungsprocesses der griechischen Pflanzenranke zu rekonstruiren
vermögen. Ein vortreffliches Beispiel für die Dekoration des ganzen
Bauches einer Vase mittels des Rankenornaments bietet die Nikopol-
Vase in der Eremitage Fig. 121 47). Wir sehen hier nur eine Seite der
Vase; auf der anderen Seite ist die Dekoration eine völlig ähnliche.
Der Figurenfries der attischen Vasen des 5. Jahrh. ist hier auf ein
schmales Schulterband beschränkt; den weitaus grössten Theil der Ober-
fläche füllt das Rankenwerk. Unten gewahren wir einen Kelch von
drei Akanthusblättern: einem vollen en face zwischen zwei halben in
Profilansicht. Aus dem Kelche steigen zwei Rankenstengel empor und
verbreiten sich in symmetrischer Weise, indem sie in undulirender Be-
wegung dem oberen Rande zustreben. Der Akanthus kommt auch an
den Ranken wiederholt vor; als plastische Halbpalmette dient er da
zur Hülse der Rankengabelungen und zum Kelch der Lotusblüthen und
Palmetten: also in der schon am Erechtheion festgestellten Stilisirung
und Funktion. Neben den plastisch-perspektivischen Halbpalmetten
begegnen wir aber auch den traditionellen flach-abstrakten; sie sind
geschwungen und zum Theil von dem gesprengten Palmettentypus ent-
lehnt. Auch die Blüthenformen sind mehrfach die alten flachen Pal-
metten, zum Theil zeigen sie aber Neigung zu perspektivischer Bildung
und naturalisirenden Zuthaten. Dieses Nebeneinander von flach-abstrak-
ten und plastisch-perspektivischen Formen scheint für die hellenistische
Ornamentik besonders charakteristisch gewesen zu sein, da es sich auch
an den Halsverzierungen der unteritalischen Vasen überaus häufig beob-
achten lässt. — An der Nikopol-Vase wären ausserdem noch besonders
zu vermerken die eingestreuten Vögel, die als leichtschwebende Lebe-
wesen zu solchem Zwecke besonders geeignet waren, und mit halbent-
falteten Flügeln dargestellt erscheinen. Die elegante Bewegung der
Ranken ist anscheinend völlig frei; die trotzdem eingehaltene Sym-
metrie macht sich dem Auge nicht vordringlich bemerkbar.
Die griechische Kunst hatte aber nicht umsonst Jahrhunderte hin-
durch danach gestrebt, in der höchsten Aufgabe aller Skulptur und
Malerei, in der Darstellung der menschlichen Figur, das Vollkommenste
zu leisten. Die menschliche Figur wurde schliesslich auch in die De-
koration eingeführt. Es war eine der hellenistischen Künstler würdige
47) Nach Stephani Compte rendu 1864, Taf. 1.
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