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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
wendung gelangt zu sein. Sie stellt sich im Grunde genommen dar
als eine Zerlegung der orientalischen Palmette in zwei Halbpalmetten.
Die Zusammensetzung der Palmette nach dem herkömmlichen, im Orient
geschaffenen Typus hatte etwas an sich, das den geometrischen sche-
matischen Charakter niemals ganz verwinden konnte. Der eingerollte
Volutenkelch blieb immer eine Doppelspirale, in deren Zwickel der
Zapfen mit dem Fächer bloss äusserlich eingriff. Die gesprengte Pal-
mette hebt sowohl den Volutenkelch als den geschlossenen Fächer auf
und bringt zugleich beide in organische Verbindung zu einander. Die
gesprengte Palmette zerfällt nicht mehr in ein Oben und Unten (Fächer
und Kelch), sondern in ein Rechts und Links (zwei Halbpalmetten).
[Abbildung] Fig. 109.

Ueberfallende Palmette
vom Parthenon.

[Abbildung] Fig. 110.

Gesprengte Palmette,
von einer attischen Grabstele.

Beiderseits bemerken wir eine Art Gabelranke: von unten steigen
zwei Stengel (als solche meist vegetabilisch charakterisirt) auf, gabeln
sich jeder alsbald in zwei Ranken, wovon die äussere seitwärts spiralig
sich einrollt, die innere in Wellenschwingung aufwärts strebt und hiebei
die Form der den Fächer zusammensetzenden langen und schmalen
Blätter annimmt. Aehnlich geschwungene, gegen unten entsprechend
kleiner werdende Blätter bilden so zu sagen die Zwickelfüllung zwischen
beiden Ausläufern der Gabelranke. Mit ihrem symmetrischen Gegen-
über bildet nun die Gabelranke die gesprengte Palmette.

Es soll zwar nicht behauptet werden, dass der Process, der zu
der Schaffung dieses Motivs geführt hat, in der That in bewusster
Weise und in direkter Linie gemäss der eben gegebenen Erklärung
sich vollzogen hat; aber dass das Motiv der Rankengabelung den ent-

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9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments.
wendung gelangt zu sein. Sie stellt sich im Grunde genommen dar
als eine Zerlegung der orientalischen Palmette in zwei Halbpalmetten.
Die Zusammensetzung der Palmette nach dem herkömmlichen, im Orient
geschaffenen Typus hatte etwas an sich, das den geometrischen sche-
matischen Charakter niemals ganz verwinden konnte. Der eingerollte
Volutenkelch blieb immer eine Doppelspirale, in deren Zwickel der
Zapfen mit dem Fächer bloss äusserlich eingriff. Die gesprengte Pal-
mette hebt sowohl den Volutenkelch als den geschlossenen Fächer auf
und bringt zugleich beide in organische Verbindung zu einander. Die
gesprengte Palmette zerfällt nicht mehr in ein Oben und Unten (Fächer
und Kelch), sondern in ein Rechts und Links (zwei Halbpalmetten).
[Abbildung] Fig. 109.

Ueberfallende Palmette
vom Parthenon.

[Abbildung] Fig. 110.

Gesprengte Palmette,
von einer attischen Grabstele.

Beiderseits bemerken wir eine Art Gabelranke: von unten steigen
zwei Stengel (als solche meist vegetabilisch charakterisirt) auf, gabeln
sich jeder alsbald in zwei Ranken, wovon die äussere seitwärts spiralig
sich einrollt, die innere in Wellenschwingung aufwärts strebt und hiebei
die Form der den Fächer zusammensetzenden langen und schmalen
Blätter annimmt. Aehnlich geschwungene, gegen unten entsprechend
kleiner werdende Blätter bilden so zu sagen die Zwickelfüllung zwischen
beiden Ausläufern der Gabelranke. Mit ihrem symmetrischen Gegen-
über bildet nun die Gabelranke die gesprengte Palmette.

Es soll zwar nicht behauptet werden, dass der Process, der zu
der Schaffung dieses Motivs geführt hat, in der That in bewusster
Weise und in direkter Linie gemäss der eben gegebenen Erklärung
sich vollzogen hat; aber dass das Motiv der Rankengabelung den ent-

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[211/0237] 9. Das Aufkommen des Akanthus-Ornaments. wendung gelangt zu sein. Sie stellt sich im Grunde genommen dar als eine Zerlegung der orientalischen Palmette in zwei Halbpalmetten. Die Zusammensetzung der Palmette nach dem herkömmlichen, im Orient geschaffenen Typus hatte etwas an sich, das den geometrischen sche- matischen Charakter niemals ganz verwinden konnte. Der eingerollte Volutenkelch blieb immer eine Doppelspirale, in deren Zwickel der Zapfen mit dem Fächer bloss äusserlich eingriff. Die gesprengte Pal- mette hebt sowohl den Volutenkelch als den geschlossenen Fächer auf und bringt zugleich beide in organische Verbindung zu einander. Die gesprengte Palmette zerfällt nicht mehr in ein Oben und Unten (Fächer und Kelch), sondern in ein Rechts und Links (zwei Halbpalmetten). [Abbildung Fig. 109. Ueberfallende Palmette vom Parthenon.] [Abbildung Fig. 110. Gesprengte Palmette, von einer attischen Grabstele.] Beiderseits bemerken wir eine Art Gabelranke: von unten steigen zwei Stengel (als solche meist vegetabilisch charakterisirt) auf, gabeln sich jeder alsbald in zwei Ranken, wovon die äussere seitwärts spiralig sich einrollt, die innere in Wellenschwingung aufwärts strebt und hiebei die Form der den Fächer zusammensetzenden langen und schmalen Blätter annimmt. Aehnlich geschwungene, gegen unten entsprechend kleiner werdende Blätter bilden so zu sagen die Zwickelfüllung zwischen beiden Ausläufern der Gabelranke. Mit ihrem symmetrischen Gegen- über bildet nun die Gabelranke die gesprengte Palmette. Es soll zwar nicht behauptet werden, dass der Process, der zu der Schaffung dieses Motivs geführt hat, in der That in bewusster Weise und in direkter Linie gemäss der eben gegebenen Erklärung sich vollzogen hat; aber dass das Motiv der Rankengabelung den ent- 14*

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/237>, abgerufen am 25.11.2024.