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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
dem Kreise des Nikosthenes entgegentritt, kann gerade bei diesem nicht
Wunder nehmen, wo wir ja gewohnt sind, mitunter den seltsamsten
Kombinationen von Motiven zu begegnen. Kleinere, minder auffällige
Durchbrechungen der strengen Symmetrie im Henkel-Rankenornament
sind aber in rothfiguriger Zeit sehr häufig gewesen (z. B. Fig. 106)20).
Der an Fig. 93 beobachtete Versuch lag also sozusagen in der Luft:
in der outrirten Fassung, die ihm der Nikosthenes-Kreis gegeben, reizte
er nicht zur Nachahmung, aber in maassvollerer Anwendung wurde er
offenbar als pikant und gefallsam empfunden.

[Abbildung] Fig. 106.

Henkel-Ornament von einer attischen Vase.

Entsprach schon das gelegentliche Verlassen der streng symme-
trischen Anordnung einer Forderung der Zeit, so war dies noch umso-
mehr der Fall hinsichtlich der überwundenen centralen Anord-
nung
. Das Ornament entwickelt sich von nun an zwar von einem be-
stimmten Punkte aus, der aber keineswegs den Mittelpunkt zu bilden
braucht, zu dem alles Uebrige in koncentrischer Beziehung steht. Die

20) Im kaiserl. Münz- und Antiken-Cabinet in Wien, Inv.-No. 608. Die
Blüthe, welche unten die Symmetrie durchbricht, ist auch bemerkenswerth
wegen der Verbindung des Lotusprofils mit dem geschlossenen Palmetten-
fächer, die uns daran entgegentritt: also ein egyptischer Pleonasmus, aber
unter griechischer Formgebung.

B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst.
dem Kreise des Nikosthenes entgegentritt, kann gerade bei diesem nicht
Wunder nehmen, wo wir ja gewohnt sind, mitunter den seltsamsten
Kombinationen von Motiven zu begegnen. Kleinere, minder auffällige
Durchbrechungen der strengen Symmetrie im Henkel-Rankenornament
sind aber in rothfiguriger Zeit sehr häufig gewesen (z. B. Fig. 106)20).
Der an Fig. 93 beobachtete Versuch lag also sozusagen in der Luft:
in der outrirten Fassung, die ihm der Nikosthenes-Kreis gegeben, reizte
er nicht zur Nachahmung, aber in maassvollerer Anwendung wurde er
offenbar als pikant und gefallsam empfunden.

[Abbildung] Fig. 106.

Henkel-Ornament von einer attischen Vase.

Entsprach schon das gelegentliche Verlassen der streng symme-
trischen Anordnung einer Forderung der Zeit, so war dies noch umso-
mehr der Fall hinsichtlich der überwundenen centralen Anord-
nung
. Das Ornament entwickelt sich von nun an zwar von einem be-
stimmten Punkte aus, der aber keineswegs den Mittelpunkt zu bilden
braucht, zu dem alles Uebrige in koncentrischer Beziehung steht. Die

20) Im kaiserl. Münz- und Antiken-Cabinet in Wien, Inv.-No. 608. Die
Blüthe, welche unten die Symmetrie durchbricht, ist auch bemerkenswerth
wegen der Verbindung des Lotusprofils mit dem geschlossenen Palmetten-
fächer, die uns daran entgegentritt: also ein egyptischer Pleonasmus, aber
unter griechischer Formgebung.
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[204/0230] B. Das Pflanzenornament in der griechischen Kunst. dem Kreise des Nikosthenes entgegentritt, kann gerade bei diesem nicht Wunder nehmen, wo wir ja gewohnt sind, mitunter den seltsamsten Kombinationen von Motiven zu begegnen. Kleinere, minder auffällige Durchbrechungen der strengen Symmetrie im Henkel-Rankenornament sind aber in rothfiguriger Zeit sehr häufig gewesen (z. B. Fig. 106) 20). Der an Fig. 93 beobachtete Versuch lag also sozusagen in der Luft: in der outrirten Fassung, die ihm der Nikosthenes-Kreis gegeben, reizte er nicht zur Nachahmung, aber in maassvollerer Anwendung wurde er offenbar als pikant und gefallsam empfunden. [Abbildung Fig. 106. Henkel-Ornament von einer attischen Vase. ] Entsprach schon das gelegentliche Verlassen der streng symme- trischen Anordnung einer Forderung der Zeit, so war dies noch umso- mehr der Fall hinsichtlich der überwundenen centralen Anord- nung. Das Ornament entwickelt sich von nun an zwar von einem be- stimmten Punkte aus, der aber keineswegs den Mittelpunkt zu bilden braucht, zu dem alles Uebrige in koncentrischer Beziehung steht. Die 20) Im kaiserl. Münz- und Antiken-Cabinet in Wien, Inv.-No. 608. Die Blüthe, welche unten die Symmetrie durchbricht, ist auch bemerkenswerth wegen der Verbindung des Lotusprofils mit dem geschlossenen Palmetten- fächer, die uns daran entgegentritt: also ein egyptischer Pleonasmus, aber unter griechischer Formgebung.

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/230>, abgerufen am 24.11.2024.