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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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6. Das Rankengeschlinge.
Auge des Archäologen sofort in's Auge springen wird, ist das Orna-
ment, das sich in der oberen Hälfte gegen das schmale Ende hinzieht.
Es ist nämlich das leibhaftige "gegenständige" Palmetten-Lotus-Band;
selbst das Band, das sich undulirend dazwischen schlingt, erinnert an
Fig. 83. Die technische Ausführung, die diesem gestickten Ornament
zu Grunde liegt, ist in der That diejenige, die Holwerda seinen Schling-
drähten zu Grunde legt. Es handelt sich darum mit fortlaufendem
Faden ein bestimmtes Ornament auf die Fläche hin zu zeichnen. Der
geübte Sticker wird die Fäden so legen, dass er niemals hinsichtlich
der Verbindung mit dem benachbarten Ornament in Verlegenheit
kommt. Das in Fig. 87 vorliegende Stück zählt ausnahmsweise nicht
zu den gelungensten: die meisten unter diesen Schnürchenstickereien
von der Balkanhalbinsel sind nämlich vollendet in der Zeichnung und
meisterhaft in der Mache. Der Verbreitungsbezirk geht aber über die
Balkanhalbinsel hinaus und umfasst auch die griechischen Inseln und
zum Theil Kleinasien bis nach Syrien. Die Ornamente sind beschränkt
an Zahl und eigenartig: an denjenigen von der Balkanhalbinsel tritt
die specifische saracenische Tünche zurück und das Autochthon-Byzan-
tinische, oder sagen wir gleich, das Antike unverkennbar hervor. Ich
hege daher auch keinen Anstand in Fig. 87 einen Epigonen des archai-
schen gegenständigen Palmetten-Lotus-Bandes zu erblicken. Das ver-
breitetste Saumornament am Balkan ist daneben die fortlaufende Spirale,
die sich kreisförmig ein- und vom Mittelpunkte wieder ausrollt, völlig
nach mykenischer Weise (Fig. 59). Historisch betrachtet, kann das
Ornament am Balkan nicht überraschen; in der Schnürchenstickerei
hatte man besondere Veranlassung strenge daran festzuhalten, da be-
greiflichermaassen kaum ein anderes über die blosse Wellenlinie hinaus-
gehendes Muster sich für Saummuster aus aufgelegten Schnürchen so
vortrefflich eignete. Immerhin wäre das Eindringen des auch ander-
wärts in Gebrauch gebliebenen oder wieder gekommenen einfachen
Spiralmotivs von aussen her nicht undenkbar. Das Motiv von Fig. 87 ist
aber ein höchst eigenartiges, das in solcher Stilisirung und individuellem
Charakter seit archaischer Zeit niemals mehr in der internationalen Kunst,
auch nicht in der römischen zur Darstellung gebracht worden ist. Die
italienische Renaissance, die ja auf dem Wege über Venedig die Balkan-
küsten nachweislich stark beeinflusst hat, kannte das Motiv nicht; auch
im Empire, das ja zuerst wieder archaisch-griechischen Formen Gefallen
abgewann, ist es nicht nachzuweisen. Nur in einer Volkskunst konnte es
sich durch die Jahrtausende so unverändert erhalten haben, und dies

6. Das Rankengeschlinge.
Auge des Archäologen sofort in’s Auge springen wird, ist das Orna-
ment, das sich in der oberen Hälfte gegen das schmale Ende hinzieht.
Es ist nämlich das leibhaftige „gegenständige“ Palmetten-Lotus-Band;
selbst das Band, das sich undulirend dazwischen schlingt, erinnert an
Fig. 83. Die technische Ausführung, die diesem gestickten Ornament
zu Grunde liegt, ist in der That diejenige, die Holwerda seinen Schling-
drähten zu Grunde legt. Es handelt sich darum mit fortlaufendem
Faden ein bestimmtes Ornament auf die Fläche hin zu zeichnen. Der
geübte Sticker wird die Fäden so legen, dass er niemals hinsichtlich
der Verbindung mit dem benachbarten Ornament in Verlegenheit
kommt. Das in Fig. 87 vorliegende Stück zählt ausnahmsweise nicht
zu den gelungensten: die meisten unter diesen Schnürchenstickereien
von der Balkanhalbinsel sind nämlich vollendet in der Zeichnung und
meisterhaft in der Mache. Der Verbreitungsbezirk geht aber über die
Balkanhalbinsel hinaus und umfasst auch die griechischen Inseln und
zum Theil Kleinasien bis nach Syrien. Die Ornamente sind beschränkt
an Zahl und eigenartig: an denjenigen von der Balkanhalbinsel tritt
die specifische saracenische Tünche zurück und das Autochthon-Byzan-
tinische, oder sagen wir gleich, das Antike unverkennbar hervor. Ich
hege daher auch keinen Anstand in Fig. 87 einen Epigonen des archai-
schen gegenständigen Palmetten-Lotus-Bandes zu erblicken. Das ver-
breitetste Saumornament am Balkan ist daneben die fortlaufende Spirale,
die sich kreisförmig ein- und vom Mittelpunkte wieder ausrollt, völlig
nach mykenischer Weise (Fig. 59). Historisch betrachtet, kann das
Ornament am Balkan nicht überraschen; in der Schnürchenstickerei
hatte man besondere Veranlassung strenge daran festzuhalten, da be-
greiflichermaassen kaum ein anderes über die blosse Wellenlinie hinaus-
gehendes Muster sich für Saummuster aus aufgelegten Schnürchen so
vortrefflich eignete. Immerhin wäre das Eindringen des auch ander-
wärts in Gebrauch gebliebenen oder wieder gekommenen einfachen
Spiralmotivs von aussen her nicht undenkbar. Das Motiv von Fig. 87 ist
aber ein höchst eigenartiges, das in solcher Stilisirung und individuellem
Charakter seit archaischer Zeit niemals mehr in der internationalen Kunst,
auch nicht in der römischen zur Darstellung gebracht worden ist. Die
italienische Renaissance, die ja auf dem Wege über Venedig die Balkan-
küsten nachweislich stark beeinflusst hat, kannte das Motiv nicht; auch
im Empire, das ja zuerst wieder archaisch-griechischen Formen Gefallen
abgewann, ist es nicht nachzuweisen. Nur in einer Volkskunst konnte es
sich durch die Jahrtausende so unverändert erhalten haben, und dies

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[185/0211] 6. Das Rankengeschlinge. Auge des Archäologen sofort in’s Auge springen wird, ist das Orna- ment, das sich in der oberen Hälfte gegen das schmale Ende hinzieht. Es ist nämlich das leibhaftige „gegenständige“ Palmetten-Lotus-Band; selbst das Band, das sich undulirend dazwischen schlingt, erinnert an Fig. 83. Die technische Ausführung, die diesem gestickten Ornament zu Grunde liegt, ist in der That diejenige, die Holwerda seinen Schling- drähten zu Grunde legt. Es handelt sich darum mit fortlaufendem Faden ein bestimmtes Ornament auf die Fläche hin zu zeichnen. Der geübte Sticker wird die Fäden so legen, dass er niemals hinsichtlich der Verbindung mit dem benachbarten Ornament in Verlegenheit kommt. Das in Fig. 87 vorliegende Stück zählt ausnahmsweise nicht zu den gelungensten: die meisten unter diesen Schnürchenstickereien von der Balkanhalbinsel sind nämlich vollendet in der Zeichnung und meisterhaft in der Mache. Der Verbreitungsbezirk geht aber über die Balkanhalbinsel hinaus und umfasst auch die griechischen Inseln und zum Theil Kleinasien bis nach Syrien. Die Ornamente sind beschränkt an Zahl und eigenartig: an denjenigen von der Balkanhalbinsel tritt die specifische saracenische Tünche zurück und das Autochthon-Byzan- tinische, oder sagen wir gleich, das Antike unverkennbar hervor. Ich hege daher auch keinen Anstand in Fig. 87 einen Epigonen des archai- schen gegenständigen Palmetten-Lotus-Bandes zu erblicken. Das ver- breitetste Saumornament am Balkan ist daneben die fortlaufende Spirale, die sich kreisförmig ein- und vom Mittelpunkte wieder ausrollt, völlig nach mykenischer Weise (Fig. 59). Historisch betrachtet, kann das Ornament am Balkan nicht überraschen; in der Schnürchenstickerei hatte man besondere Veranlassung strenge daran festzuhalten, da be- greiflichermaassen kaum ein anderes über die blosse Wellenlinie hinaus- gehendes Muster sich für Saummuster aus aufgelegten Schnürchen so vortrefflich eignete. Immerhin wäre das Eindringen des auch ander- wärts in Gebrauch gebliebenen oder wieder gekommenen einfachen Spiralmotivs von aussen her nicht undenkbar. Das Motiv von Fig. 87 ist aber ein höchst eigenartiges, das in solcher Stilisirung und individuellem Charakter seit archaischer Zeit niemals mehr in der internationalen Kunst, auch nicht in der römischen zur Darstellung gebracht worden ist. Die italienische Renaissance, die ja auf dem Wege über Venedig die Balkan- küsten nachweislich stark beeinflusst hat, kannte das Motiv nicht; auch im Empire, das ja zuerst wieder archaisch-griechischen Formen Gefallen abgewann, ist es nicht nachzuweisen. Nur in einer Volkskunst konnte es sich durch die Jahrtausende so unverändert erhalten haben, und dies

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/211>, abgerufen am 25.11.2024.