tivische Erscheinung einer Pflanze und ihrer Theile. Ja, es hat in der Antike ohne Zweifel sogar eine Zeit gegeben, wo man in der beregten Annäherung bereits ziemlich weit vorgeschritten war; doch dies war nur eine vorübergehende Episode, woneben und wonach die stilisirten traditionellen Formen dauernd in Geltung geblieben sind. Im All- gemeinen lässt sich sagen, dass die Naturalisirung des Pflanzenorna- ments im Alterthum und fast das ganze Mittelalter hindurch niemals bis zur unmittelbaren Abschreibung der Natur gegangen ist.
Das lehrreichste und wohl auch wichtigste Beispiel für die Art und Weise, wie man im Alterthum die Naturalisirung von stilisirten Pflanzenmotiven verstanden und durchgeführt hat, liefert das Auf- kommen des Akanthus. Bis zum heutigen Tage gilt widerspruchs- los die Anekdote des Vitruv, wonach das Akanthusornament einer un- mittelbaren Nachbildung der Akanthuspflanze seine Entstehung ver- dankte. An dem Unwahrscheinlichen des Vorgangs, dass man plötzlich das erste beste Unkraut zum künstlerischen Motiv erhoben haben sollte, scheint sich bisher Niemand gestossen zu haben. In zusammenhängen- der Betrachtung einer Geschichte der Ornamentik erschien mir ein solcher Vorgang völlig neu, ohne Gleichen und absurd. Und in der That ergiebt die Betrachtung der ältesten Akanthusornamente, dass dieselben im Aussehen gerade die charakteristischen Eigenthümlich- keiten der Akanthuspflanze vermissen lassen. Diese charakteristischen Eigenthümlichkeiten haben sich nachweislich erst im Laufe der Zeit aus dem ursprünglich Vorhandenen entwickelt: liegt es da nicht auf der Hand, dass man auch die Bezeichnung des Ornaments als Akan- thus erst viel später vorgenommen haben kann, zu einer Zeit, da dieses Ornament in der That dem Aussehen der genannten Pflanze nahe gekommen war? Was aber die ältesten Akanthusornamente betrifft, so hoffe ich im 3. Kapitel erwiesen zu haben, dass dieselben nichts Anderes sind, als plastische, beziehungsweise plastisch gedachte Pal- metten. Damit erscheint der Akanthus, dieses nachmals weitaus wichtigste von allen Pflanzenornamenten, nicht mehr als Deus ex machina in der Kunstgeschichte, sondern eingereiht in den zusammen- hängenden, normalen Entwicklungsgang der antiken Ornamentik.
Der naturalisirenden Tendenz in der abendländischen Kunst, die sich u. a. eben in der Entfaltung des Akanthusornaments unzweideutig
Einleitung.
tivische Erscheinung einer Pflanze und ihrer Theile. Ja, es hat in der Antike ohne Zweifel sogar eine Zeit gegeben, wo man in der beregten Annäherung bereits ziemlich weit vorgeschritten war; doch dies war nur eine vorübergehende Episode, woneben und wonach die stilisirten traditionellen Formen dauernd in Geltung geblieben sind. Im All- gemeinen lässt sich sagen, dass die Naturalisirung des Pflanzenorna- ments im Alterthum und fast das ganze Mittelalter hindurch niemals bis zur unmittelbaren Abschreibung der Natur gegangen ist.
Das lehrreichste und wohl auch wichtigste Beispiel für die Art und Weise, wie man im Alterthum die Naturalisirung von stilisirten Pflanzenmotiven verstanden und durchgeführt hat, liefert das Auf- kommen des Akanthus. Bis zum heutigen Tage gilt widerspruchs- los die Anekdote des Vitruv, wonach das Akanthusornament einer un- mittelbaren Nachbildung der Akanthuspflanze seine Entstehung ver- dankte. An dem Unwahrscheinlichen des Vorgangs, dass man plötzlich das erste beste Unkraut zum künstlerischen Motiv erhoben haben sollte, scheint sich bisher Niemand gestossen zu haben. In zusammenhängen- der Betrachtung einer Geschichte der Ornamentik erschien mir ein solcher Vorgang völlig neu, ohne Gleichen und absurd. Und in der That ergiebt die Betrachtung der ältesten Akanthusornamente, dass dieselben im Aussehen gerade die charakteristischen Eigenthümlich- keiten der Akanthuspflanze vermissen lassen. Diese charakteristischen Eigenthümlichkeiten haben sich nachweislich erst im Laufe der Zeit aus dem ursprünglich Vorhandenen entwickelt: liegt es da nicht auf der Hand, dass man auch die Bezeichnung des Ornaments als Akan- thus erst viel später vorgenommen haben kann, zu einer Zeit, da dieses Ornament in der That dem Aussehen der genannten Pflanze nahe gekommen war? Was aber die ältesten Akanthusornamente betrifft, so hoffe ich im 3. Kapitel erwiesen zu haben, dass dieselben nichts Anderes sind, als plastische, beziehungsweise plastisch gedachte Pal- metten. Damit erscheint der Akanthus, dieses nachmals weitaus wichtigste von allen Pflanzenornamenten, nicht mehr als Deus ex machina in der Kunstgeschichte, sondern eingereiht in den zusammen- hängenden, normalen Entwicklungsgang der antiken Ornamentik.
Der naturalisirenden Tendenz in der abendländischen Kunst, die sich u. a. eben in der Entfaltung des Akanthusornaments unzweideutig
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0021"n="XV"/><fwplace="top"type="header">Einleitung.</fw><lb/>
tivische Erscheinung einer Pflanze und ihrer Theile. Ja, es hat in der<lb/>
Antike ohne Zweifel sogar eine Zeit gegeben, wo man in der beregten<lb/>
Annäherung bereits ziemlich weit vorgeschritten war; doch dies war<lb/>
nur eine vorübergehende Episode, woneben und wonach die stilisirten<lb/>
traditionellen Formen dauernd in Geltung geblieben sind. Im All-<lb/>
gemeinen lässt sich sagen, dass die Naturalisirung des Pflanzenorna-<lb/>
ments im Alterthum und fast das ganze Mittelalter hindurch niemals<lb/>
bis zur unmittelbaren Abschreibung der Natur gegangen ist.</p><lb/><p>Das lehrreichste und wohl auch wichtigste Beispiel für die Art<lb/>
und Weise, wie man im Alterthum die Naturalisirung von stilisirten<lb/>
Pflanzenmotiven verstanden und durchgeführt hat, liefert das Auf-<lb/>
kommen des <hirendition="#g">Akanthus</hi>. Bis zum heutigen Tage gilt widerspruchs-<lb/>
los die Anekdote des Vitruv, wonach das Akanthusornament einer un-<lb/>
mittelbaren Nachbildung der Akanthuspflanze seine Entstehung ver-<lb/>
dankte. An dem Unwahrscheinlichen des Vorgangs, dass man plötzlich<lb/>
das erste beste Unkraut zum künstlerischen Motiv erhoben haben sollte,<lb/>
scheint sich bisher Niemand gestossen zu haben. In zusammenhängen-<lb/>
der Betrachtung einer Geschichte der Ornamentik erschien mir ein<lb/>
solcher Vorgang völlig neu, ohne Gleichen und absurd. Und in der<lb/>
That ergiebt die Betrachtung der ältesten Akanthusornamente, dass<lb/>
dieselben im Aussehen gerade die charakteristischen Eigenthümlich-<lb/>
keiten der Akanthuspflanze vermissen lassen. Diese charakteristischen<lb/>
Eigenthümlichkeiten haben sich nachweislich erst im Laufe der Zeit<lb/>
aus dem ursprünglich Vorhandenen entwickelt: liegt es da nicht auf<lb/>
der Hand, dass man auch die Bezeichnung des Ornaments als Akan-<lb/>
thus erst viel später vorgenommen haben kann, zu einer Zeit, da<lb/>
dieses Ornament in der That dem Aussehen der genannten Pflanze nahe<lb/>
gekommen war? Was aber die ältesten Akanthusornamente betrifft, so<lb/>
hoffe ich im 3. Kapitel erwiesen zu haben, dass dieselben nichts<lb/>
Anderes sind, als plastische, beziehungsweise plastisch gedachte Pal-<lb/>
metten. Damit erscheint der Akanthus, dieses nachmals weitaus<lb/>
wichtigste von allen Pflanzenornamenten, nicht mehr als Deus ex<lb/>
machina in der Kunstgeschichte, sondern eingereiht in den zusammen-<lb/>
hängenden, normalen Entwicklungsgang der antiken Ornamentik.</p><lb/><p>Der naturalisirenden Tendenz in der abendländischen Kunst, die<lb/>
sich u. a. eben in der Entfaltung des Akanthusornaments unzweideutig<lb/></p></div></body></text></TEI>
[XV/0021]
Einleitung.
tivische Erscheinung einer Pflanze und ihrer Theile. Ja, es hat in der
Antike ohne Zweifel sogar eine Zeit gegeben, wo man in der beregten
Annäherung bereits ziemlich weit vorgeschritten war; doch dies war
nur eine vorübergehende Episode, woneben und wonach die stilisirten
traditionellen Formen dauernd in Geltung geblieben sind. Im All-
gemeinen lässt sich sagen, dass die Naturalisirung des Pflanzenorna-
ments im Alterthum und fast das ganze Mittelalter hindurch niemals
bis zur unmittelbaren Abschreibung der Natur gegangen ist.
Das lehrreichste und wohl auch wichtigste Beispiel für die Art
und Weise, wie man im Alterthum die Naturalisirung von stilisirten
Pflanzenmotiven verstanden und durchgeführt hat, liefert das Auf-
kommen des Akanthus. Bis zum heutigen Tage gilt widerspruchs-
los die Anekdote des Vitruv, wonach das Akanthusornament einer un-
mittelbaren Nachbildung der Akanthuspflanze seine Entstehung ver-
dankte. An dem Unwahrscheinlichen des Vorgangs, dass man plötzlich
das erste beste Unkraut zum künstlerischen Motiv erhoben haben sollte,
scheint sich bisher Niemand gestossen zu haben. In zusammenhängen-
der Betrachtung einer Geschichte der Ornamentik erschien mir ein
solcher Vorgang völlig neu, ohne Gleichen und absurd. Und in der
That ergiebt die Betrachtung der ältesten Akanthusornamente, dass
dieselben im Aussehen gerade die charakteristischen Eigenthümlich-
keiten der Akanthuspflanze vermissen lassen. Diese charakteristischen
Eigenthümlichkeiten haben sich nachweislich erst im Laufe der Zeit
aus dem ursprünglich Vorhandenen entwickelt: liegt es da nicht auf
der Hand, dass man auch die Bezeichnung des Ornaments als Akan-
thus erst viel später vorgenommen haben kann, zu einer Zeit, da
dieses Ornament in der That dem Aussehen der genannten Pflanze nahe
gekommen war? Was aber die ältesten Akanthusornamente betrifft, so
hoffe ich im 3. Kapitel erwiesen zu haben, dass dieselben nichts
Anderes sind, als plastische, beziehungsweise plastisch gedachte Pal-
metten. Damit erscheint der Akanthus, dieses nachmals weitaus
wichtigste von allen Pflanzenornamenten, nicht mehr als Deus ex
machina in der Kunstgeschichte, sondern eingereiht in den zusammen-
hängenden, normalen Entwicklungsgang der antiken Ornamentik.
Der naturalisirenden Tendenz in der abendländischen Kunst, die
sich u. a. eben in der Entfaltung des Akanthusornaments unzweideutig
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. XV. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/21>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.