Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
Ornamentenschatzes der Menschheit beigetragen haben. Aber denselben
zum allein maassgebenden Faktor zu stempeln, heisst in den gleichen
Fehler verfallen, wie Diejenigen, die die Technik für einen solchen
Faktor ansehen möchten. Mit diesen letzteren berührt sich Goodyear
übrigens überaus nahe in dem sichtlichen Bestreben, rein psychisch-
künstlerische Beweggründe für die Erklärung ornamentaler Er-
scheinungen womöglich zu vermeiden. Wo der Mensch augenschein-
lich einem immanenten künstlerischen Schaffungstriebe gefolgt ist, dort
lässt Goodyear den Symbolismus walten, ebenso wie die Kunstmateria-
listen in dem gleichen Falle die Technik, den zufälligen todten Zweck
in's Feld führen.

Was andererseits die fast schrankenlose Ausdehnung der Vorbild-
lichkeit des Lotus auf alle Gebiete der antiken Ornamentik (z. B. selbst
auf die prähistorischen Zickzackbänder) anbelangt, so liegt auch hierin
eine Uebertreibung gleich derjenigen, welcher sich die Kunstmateria-
listen und die Darwinisten hingegeben haben. So will Goodyear his-
torische Zusammenhänge an vielen Punkten erblicken, wo eine be-
sonnene Forschung sie unbedingt zurückweisen muss. Da er überall
nur Uniformes sehen will, trübt er sich geflissentlich den Blick für
feinere Unterscheidungen. Auf diese Weise konnte es gar nicht anders
geschehen, als dass er u. a. den echt hellenischen Kern in der
mykenischen Ornamentik
übersah, und damit zugleich den viel-
leicht wichtigsten Punkt in der gesammten Entwicklung der klassi-
schen Ornamentik unberücksichtigt liess.

Die überwiegende Bedeutung, die dem Pflanzenornament inner-
halb der antiken Ornamentik sowohl an und für sich, als mit Bezug
auf eine richtige Beurtheilung und Würdigung dieser Ornamentik inner-
halb der Gesammtgeschichte der dekorativen Künste zukommt, hat
Goodyear ebenso klar erkannt, wie schon viele andere Forscher vor
ihm. Im Wintersemester 1890/91 habe ich an der Wiener Universität
Vorlesungen über eine "Geschichte der Ornamentik" gehalten, inner-
halb welcher der Darstellung der Entwicklung des Pflanzenornaments
von frühester antiker Zeit an der vornehmste Platz eingeräumt war.
Ein Theil vom Inhalte dieser Vorlesungen ist es, den ich im 3. Kapitel
dieses Buches wiedergebe, mit geringen Zusätzen, die hauptsächlich
durch die nothwendig gewordenen Beziehungen auf das mittlerweile

Einleitung.
Ornamentenschatzes der Menschheit beigetragen haben. Aber denselben
zum allein maassgebenden Faktor zu stempeln, heisst in den gleichen
Fehler verfallen, wie Diejenigen, die die Technik für einen solchen
Faktor ansehen möchten. Mit diesen letzteren berührt sich Goodyear
übrigens überaus nahe in dem sichtlichen Bestreben, rein psychisch-
künstlerische Beweggründe für die Erklärung ornamentaler Er-
scheinungen womöglich zu vermeiden. Wo der Mensch augenschein-
lich einem immanenten künstlerischen Schaffungstriebe gefolgt ist, dort
lässt Goodyear den Symbolismus walten, ebenso wie die Kunstmateria-
listen in dem gleichen Falle die Technik, den zufälligen todten Zweck
in’s Feld führen.

Was andererseits die fast schrankenlose Ausdehnung der Vorbild-
lichkeit des Lotus auf alle Gebiete der antiken Ornamentik (z. B. selbst
auf die prähistorischen Zickzackbänder) anbelangt, so liegt auch hierin
eine Uebertreibung gleich derjenigen, welcher sich die Kunstmateria-
listen und die Darwinisten hingegeben haben. So will Goodyear his-
torische Zusammenhänge an vielen Punkten erblicken, wo eine be-
sonnene Forschung sie unbedingt zurückweisen muss. Da er überall
nur Uniformes sehen will, trübt er sich geflissentlich den Blick für
feinere Unterscheidungen. Auf diese Weise konnte es gar nicht anders
geschehen, als dass er u. a. den echt hellenischen Kern in der
mykenischen Ornamentik
übersah, und damit zugleich den viel-
leicht wichtigsten Punkt in der gesammten Entwicklung der klassi-
schen Ornamentik unberücksichtigt liess.

Die überwiegende Bedeutung, die dem Pflanzenornament inner-
halb der antiken Ornamentik sowohl an und für sich, als mit Bezug
auf eine richtige Beurtheilung und Würdigung dieser Ornamentik inner-
halb der Gesammtgeschichte der dekorativen Künste zukommt, hat
Goodyear ebenso klar erkannt, wie schon viele andere Forscher vor
ihm. Im Wintersemester 1890/91 habe ich an der Wiener Universität
Vorlesungen über eine „Geschichte der Ornamentik“ gehalten, inner-
halb welcher der Darstellung der Entwicklung des Pflanzenornaments
von frühester antiker Zeit an der vornehmste Platz eingeräumt war.
Ein Theil vom Inhalte dieser Vorlesungen ist es, den ich im 3. Kapitel
dieses Buches wiedergebe, mit geringen Zusätzen, die hauptsächlich
durch die nothwendig gewordenen Beziehungen auf das mittlerweile

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0018" n="XII"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
Ornamentenschatzes der Menschheit beigetragen haben. Aber denselben<lb/>
zum allein maassgebenden Faktor zu stempeln, heisst in den gleichen<lb/>
Fehler verfallen, wie Diejenigen, die die Technik für einen solchen<lb/>
Faktor ansehen möchten. Mit diesen letzteren berührt sich Goodyear<lb/>
übrigens überaus nahe in dem sichtlichen Bestreben, rein psychisch-<lb/>
künstlerische Beweggründe für die Erklärung ornamentaler Er-<lb/>
scheinungen womöglich zu vermeiden. Wo der Mensch augenschein-<lb/>
lich einem immanenten künstlerischen Schaffungstriebe gefolgt ist, dort<lb/>
lässt Goodyear den Symbolismus walten, ebenso wie die Kunstmateria-<lb/>
listen in dem gleichen Falle die Technik, den zufälligen todten Zweck<lb/>
in&#x2019;s Feld führen.</p><lb/>
        <p>Was andererseits die fast schrankenlose Ausdehnung der Vorbild-<lb/>
lichkeit des Lotus auf alle Gebiete der antiken Ornamentik (z. B. selbst<lb/>
auf die prähistorischen Zickzackbänder) anbelangt, so liegt auch hierin<lb/>
eine Uebertreibung gleich derjenigen, welcher sich die Kunstmateria-<lb/>
listen und die Darwinisten hingegeben haben. So will Goodyear his-<lb/>
torische Zusammenhänge an vielen Punkten erblicken, wo eine be-<lb/>
sonnene Forschung sie unbedingt zurückweisen muss. Da er überall<lb/>
nur Uniformes sehen will, trübt er sich geflissentlich den Blick für<lb/>
feinere Unterscheidungen. Auf diese Weise konnte es gar nicht anders<lb/>
geschehen, als dass er u. a. den <hi rendition="#g">echt hellenischen Kern in der<lb/>
mykenischen Ornamentik</hi> übersah, und damit zugleich den viel-<lb/>
leicht wichtigsten Punkt in der gesammten Entwicklung der klassi-<lb/>
schen Ornamentik unberücksichtigt liess.</p><lb/>
        <p>Die überwiegende Bedeutung, die dem Pflanzenornament inner-<lb/>
halb der antiken Ornamentik sowohl an und für sich, als mit Bezug<lb/>
auf eine richtige Beurtheilung und Würdigung dieser Ornamentik inner-<lb/>
halb der Gesammtgeschichte der dekorativen Künste zukommt, hat<lb/>
Goodyear ebenso klar erkannt, wie schon viele andere Forscher vor<lb/>
ihm. Im Wintersemester 1890/91 habe ich an der Wiener Universität<lb/>
Vorlesungen über eine &#x201E;Geschichte der Ornamentik&#x201C; gehalten, inner-<lb/>
halb welcher der Darstellung der Entwicklung des Pflanzenornaments<lb/>
von frühester antiker Zeit an der vornehmste Platz eingeräumt war.<lb/>
Ein Theil vom Inhalte dieser Vorlesungen ist es, den ich im 3. Kapitel<lb/>
dieses Buches wiedergebe, mit geringen Zusätzen, die hauptsächlich<lb/>
durch die nothwendig gewordenen Beziehungen auf das mittlerweile<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[XII/0018] Einleitung. Ornamentenschatzes der Menschheit beigetragen haben. Aber denselben zum allein maassgebenden Faktor zu stempeln, heisst in den gleichen Fehler verfallen, wie Diejenigen, die die Technik für einen solchen Faktor ansehen möchten. Mit diesen letzteren berührt sich Goodyear übrigens überaus nahe in dem sichtlichen Bestreben, rein psychisch- künstlerische Beweggründe für die Erklärung ornamentaler Er- scheinungen womöglich zu vermeiden. Wo der Mensch augenschein- lich einem immanenten künstlerischen Schaffungstriebe gefolgt ist, dort lässt Goodyear den Symbolismus walten, ebenso wie die Kunstmateria- listen in dem gleichen Falle die Technik, den zufälligen todten Zweck in’s Feld führen. Was andererseits die fast schrankenlose Ausdehnung der Vorbild- lichkeit des Lotus auf alle Gebiete der antiken Ornamentik (z. B. selbst auf die prähistorischen Zickzackbänder) anbelangt, so liegt auch hierin eine Uebertreibung gleich derjenigen, welcher sich die Kunstmateria- listen und die Darwinisten hingegeben haben. So will Goodyear his- torische Zusammenhänge an vielen Punkten erblicken, wo eine be- sonnene Forschung sie unbedingt zurückweisen muss. Da er überall nur Uniformes sehen will, trübt er sich geflissentlich den Blick für feinere Unterscheidungen. Auf diese Weise konnte es gar nicht anders geschehen, als dass er u. a. den echt hellenischen Kern in der mykenischen Ornamentik übersah, und damit zugleich den viel- leicht wichtigsten Punkt in der gesammten Entwicklung der klassi- schen Ornamentik unberücksichtigt liess. Die überwiegende Bedeutung, die dem Pflanzenornament inner- halb der antiken Ornamentik sowohl an und für sich, als mit Bezug auf eine richtige Beurtheilung und Würdigung dieser Ornamentik inner- halb der Gesammtgeschichte der dekorativen Künste zukommt, hat Goodyear ebenso klar erkannt, wie schon viele andere Forscher vor ihm. Im Wintersemester 1890/91 habe ich an der Wiener Universität Vorlesungen über eine „Geschichte der Ornamentik“ gehalten, inner- halb welcher der Darstellung der Entwicklung des Pflanzenornaments von frühester antiker Zeit an der vornehmste Platz eingeräumt war. Ein Theil vom Inhalte dieser Vorlesungen ist es, den ich im 3. Kapitel dieses Buches wiedergebe, mit geringen Zusätzen, die hauptsächlich durch die nothwendig gewordenen Beziehungen auf das mittlerweile

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/18
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. XII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/18>, abgerufen am 24.11.2024.