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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Mykenisches.

Im innigsten Zusammenhange mit dem eben Gesagten steht die
weitere Wahrnehmung, dass uns an zahlreichen Denkmälern der mykeni-
schen Kunst eine freie, keineswegs mehr ängstliche, sondern mit-
unter geradezu grosse und kühne Anordnung des Ornaments
auf dem Grunde
entgegentritt. Man sehe z. B. auf einer Vase aus
dem Sechsten Grabe (Mykenische Thongefässe IX. 44), deren Malerei
gewiss nicht durch allzu grosse Sorgfalt in der Detailausführung her-
vorragt, wie sicher und kühn die Vogelfiguren zwischen die zwei ab-
schliessenden Saumstreifen auf den Bauch des Gefässes hingeworfen
sind. Das Gleiche gilt von den Löwen, die um den goldenen Becher
bei Schliemann Mykenä Fig. 477 herumlaufen, indem sie mit ihren in
gestrecktem Laufe dargestellten Leibern genau so viel Raum füllen, als
die Kuppe des Bechers zur Verzierung darbot. So ängstlich streifen-
weise wie die Verzierung der Dipylonvasen ist nun diejenige der bei
Prisse d'Avennes a. a. O. abgebildeten egyptischen Gefässe nicht mehr,
aber doch wiederum keineswegs so frei und gross hinkomponirt wie
auf vielen mykenischen Beispielen. Und dasselbe gilt von den Formen
der Gefässe; auch diese verrathen in Mykenä den Zusammenhang mit
den späteren griechischen Typen gegenüber den gebundenen Formen
der egyptischen Vasen.

Für die herrschende Art der Kunstbetrachtung tritt die Kunst erst
dann aus dem Bereiche des wesentlich ethnologischen Interesses in den-
jenigen der kunsthistorischen Beachtungswürdigkeit, sobald sie den
Menschen in seinen Thaten und seinen Leiden zur Darstellung
bringt. Während das geometrische, das Pflanzen- und das Thierorna-
ment bloss vom Standpunkte des Schmückens betrachtet wird, ge-
winnen wir an dem mit menschlichen Figuren verzierten Kunstwerk
ein gegenständliches Interesse. Die Kunst der Neuseeländer wird trotz
ihrer kunstvollen Spiralornamentik bei uns niemals mehr als ein sozu-
sagen exotisches Interesse erwecken, weil dieselbe in der Darstellung
der menschlichen Figur nicht über völlig rohe götzenartige Monstra
hinausgekommen ist. In der mykenischen Kunst begegnen wir
aber vielfach der Darstellung des Menschen, und zwar nicht
bloss auf eigens dazu bestimmten Gegenständen
, wohin z. B.
die Intaglios gehören mögen, sondern in rein dekorativer Ab-
sicht, zur Verzierung kunstgewerblicher Gegenstände ver-
wendet
.

Dieser Punkt ist sofort zur Kennzeichnung des grundsätzlichen
Unterschiedes gegenüber der egyptischen Kunst hervorzuheben. Die

10*
1. Mykenisches.

Im innigsten Zusammenhange mit dem eben Gesagten steht die
weitere Wahrnehmung, dass uns an zahlreichen Denkmälern der mykeni-
schen Kunst eine freie, keineswegs mehr ängstliche, sondern mit-
unter geradezu grosse und kühne Anordnung des Ornaments
auf dem Grunde
entgegentritt. Man sehe z. B. auf einer Vase aus
dem Sechsten Grabe (Mykenische Thongefässe IX. 44), deren Malerei
gewiss nicht durch allzu grosse Sorgfalt in der Detailausführung her-
vorragt, wie sicher und kühn die Vogelfiguren zwischen die zwei ab-
schliessenden Saumstreifen auf den Bauch des Gefässes hingeworfen
sind. Das Gleiche gilt von den Löwen, die um den goldenen Becher
bei Schliemann Mykenä Fig. 477 herumlaufen, indem sie mit ihren in
gestrecktem Laufe dargestellten Leibern genau so viel Raum füllen, als
die Kuppe des Bechers zur Verzierung darbot. So ängstlich streifen-
weise wie die Verzierung der Dipylonvasen ist nun diejenige der bei
Prisse d’Avennes a. a. O. abgebildeten egyptischen Gefässe nicht mehr,
aber doch wiederum keineswegs so frei und gross hinkomponirt wie
auf vielen mykenischen Beispielen. Und dasselbe gilt von den Formen
der Gefässe; auch diese verrathen in Mykenä den Zusammenhang mit
den späteren griechischen Typen gegenüber den gebundenen Formen
der egyptischen Vasen.

Für die herrschende Art der Kunstbetrachtung tritt die Kunst erst
dann aus dem Bereiche des wesentlich ethnologischen Interesses in den-
jenigen der kunsthistorischen Beachtungswürdigkeit, sobald sie den
Menschen in seinen Thaten und seinen Leiden zur Darstellung
bringt. Während das geometrische, das Pflanzen- und das Thierorna-
ment bloss vom Standpunkte des Schmückens betrachtet wird, ge-
winnen wir an dem mit menschlichen Figuren verzierten Kunstwerk
ein gegenständliches Interesse. Die Kunst der Neuseeländer wird trotz
ihrer kunstvollen Spiralornamentik bei uns niemals mehr als ein sozu-
sagen exotisches Interesse erwecken, weil dieselbe in der Darstellung
der menschlichen Figur nicht über völlig rohe götzenartige Monstra
hinausgekommen ist. In der mykenischen Kunst begegnen wir
aber vielfach der Darstellung des Menschen, und zwar nicht
bloss auf eigens dazu bestimmten Gegenständen
, wohin z. B.
die Intaglios gehören mögen, sondern in rein dekorativer Ab-
sicht, zur Verzierung kunstgewerblicher Gegenstände ver-
wendet
.

Dieser Punkt ist sofort zur Kennzeichnung des grundsätzlichen
Unterschiedes gegenüber der egyptischen Kunst hervorzuheben. Die

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[147/0173] 1. Mykenisches. Im innigsten Zusammenhange mit dem eben Gesagten steht die weitere Wahrnehmung, dass uns an zahlreichen Denkmälern der mykeni- schen Kunst eine freie, keineswegs mehr ängstliche, sondern mit- unter geradezu grosse und kühne Anordnung des Ornaments auf dem Grunde entgegentritt. Man sehe z. B. auf einer Vase aus dem Sechsten Grabe (Mykenische Thongefässe IX. 44), deren Malerei gewiss nicht durch allzu grosse Sorgfalt in der Detailausführung her- vorragt, wie sicher und kühn die Vogelfiguren zwischen die zwei ab- schliessenden Saumstreifen auf den Bauch des Gefässes hingeworfen sind. Das Gleiche gilt von den Löwen, die um den goldenen Becher bei Schliemann Mykenä Fig. 477 herumlaufen, indem sie mit ihren in gestrecktem Laufe dargestellten Leibern genau so viel Raum füllen, als die Kuppe des Bechers zur Verzierung darbot. So ängstlich streifen- weise wie die Verzierung der Dipylonvasen ist nun diejenige der bei Prisse d’Avennes a. a. O. abgebildeten egyptischen Gefässe nicht mehr, aber doch wiederum keineswegs so frei und gross hinkomponirt wie auf vielen mykenischen Beispielen. Und dasselbe gilt von den Formen der Gefässe; auch diese verrathen in Mykenä den Zusammenhang mit den späteren griechischen Typen gegenüber den gebundenen Formen der egyptischen Vasen. Für die herrschende Art der Kunstbetrachtung tritt die Kunst erst dann aus dem Bereiche des wesentlich ethnologischen Interesses in den- jenigen der kunsthistorischen Beachtungswürdigkeit, sobald sie den Menschen in seinen Thaten und seinen Leiden zur Darstellung bringt. Während das geometrische, das Pflanzen- und das Thierorna- ment bloss vom Standpunkte des Schmückens betrachtet wird, ge- winnen wir an dem mit menschlichen Figuren verzierten Kunstwerk ein gegenständliches Interesse. Die Kunst der Neuseeländer wird trotz ihrer kunstvollen Spiralornamentik bei uns niemals mehr als ein sozu- sagen exotisches Interesse erwecken, weil dieselbe in der Darstellung der menschlichen Figur nicht über völlig rohe götzenartige Monstra hinausgekommen ist. In der mykenischen Kunst begegnen wir aber vielfach der Darstellung des Menschen, und zwar nicht bloss auf eigens dazu bestimmten Gegenständen, wohin z. B. die Intaglios gehören mögen, sondern in rein dekorativer Ab- sicht, zur Verzierung kunstgewerblicher Gegenstände ver- wendet. Dieser Punkt ist sofort zur Kennzeichnung des grundsätzlichen Unterschiedes gegenüber der egyptischen Kunst hervorzuheben. Die 10*

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/173>, abgerufen am 22.11.2024.