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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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1. Egyptisches.
über den ganzen Erdball Verbreitung gefunden haben. Uebrigens wird
Niemand, der sich für die Geschichte des geometrischen Ornaments
interessirt, den Stübel'schen Aufsatz ohne Interesse und Nutzen lesen.

Von anderer Seite hat Prof. A. R. Hein in Wien in einer jüngst
erschienenen Schrift über "Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und ur-
motivische Wirbelornamente in Amerika" (Wien, A. Hölder, 1891) den
in Rede stehenden Gegenstand berührt, indem er darauf hinwies, dass
einer ganzen Reihe weitverbreiteter primitiver Ornamentformen (z. B.
dem Hakenkreuz) die Tendenz innezuwohnen scheint, den Begriff des
Rotirens, d. h. Sichbewegens im Kreise sinnfällig zu machen. Diese
Tendenz liegt augenscheinlich auch der Spirale zu Grunde, und es ist
völlig denkbar, dass der Symbolismus gewisser Völker und Zeiten ähn-
liche Vorstellungen mit der Spirale verknüpft hat. Dass aber der An-
stoss zur ersten Entstehung des Spiralenmotivs nach dieser Seite zu
suchen wäre, glaubt wohl auch A. R. Hein (der übrigens die Spirale
als solche in seine Betrachtung nicht einbezogen hat) nicht annehmen
zu sollen, da er es (S. 28) ausdrücklich als seine Ueberzeugung be-
zeichnet, dass die Symbolik die schon vorhandenen (geometrischen)
Formen lediglich für ihre Zwecke adoptirt hat39).

Um also das Vorhandensein des Spiralenmotivs in der altegyptischen
Kunst zu erklären, bedarf es keineswegs des Volutenkelchs der Lotus-
blüthe als Ausgangspunktes, sondern wir dürfen dasselbe ebenso wie
das Zickzack, die koncentrischen Ringe (welche Motive Goodyear aller-
dings beide auf die Lotusblüthe zurückführt), das Schachbrettmuster
u. s. w. als geometrische Motive einer von früherher überkommenen
Schmückungskunst ansehen, als welche dieselben Motive in den
zweifellos geometrischen Ornamentstilen anderer, bei rudimentären
Kunstzuständen verbliebener Völker, insbesondere der Maori auf Neu-
seeland entgegentreten. Und das Gleiche gilt von dem Postulat der
Zwickelfüllung, das wir in der Kunst der Neuseeländer in ähnlicher
Weise beobachtet sahen, wie in der altegyptischen Kunst. Zum Beweise
dessen wurde bereits auf die äusserste Windung in Fig. 28 hingewiesen.
Man beobachte ferner in Fig. 31 und 32 die Tätowirungen der Nase;

39) Auch darin ist diesem Autor zuzustimmen, wenn er die "Erfindung
der Formen zunächst in der künstlerischen Anlage des Menschen und in dem
Drange nach einer Bethätigung des Kunsttriebes begründet" ansieht, doch
geräth derselbe wenige Zeilen darauf in Widerspruch mit dem eben Gesagten
wenn er das Citat: "geometric ornament is the offspring of technique" in
seiner absoluten Fassung sich zu eigen macht.
Riegl, Stilfragen. 6

1. Egyptisches.
über den ganzen Erdball Verbreitung gefunden haben. Uebrigens wird
Niemand, der sich für die Geschichte des geometrischen Ornaments
interessirt, den Stübel’schen Aufsatz ohne Interesse und Nutzen lesen.

Von anderer Seite hat Prof. A. R. Hein in Wien in einer jüngst
erschienenen Schrift über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und ur-
motivische Wirbelornamente in Amerika“ (Wien, A. Hölder, 1891) den
in Rede stehenden Gegenstand berührt, indem er darauf hinwies, dass
einer ganzen Reihe weitverbreiteter primitiver Ornamentformen (z. B.
dem Hakenkreuz) die Tendenz innezuwohnen scheint, den Begriff des
Rotirens, d. h. Sichbewegens im Kreise sinnfällig zu machen. Diese
Tendenz liegt augenscheinlich auch der Spirale zu Grunde, und es ist
völlig denkbar, dass der Symbolismus gewisser Völker und Zeiten ähn-
liche Vorstellungen mit der Spirale verknüpft hat. Dass aber der An-
stoss zur ersten Entstehung des Spiralenmotivs nach dieser Seite zu
suchen wäre, glaubt wohl auch A. R. Hein (der übrigens die Spirale
als solche in seine Betrachtung nicht einbezogen hat) nicht annehmen
zu sollen, da er es (S. 28) ausdrücklich als seine Ueberzeugung be-
zeichnet, dass die Symbolik die schon vorhandenen (geometrischen)
Formen lediglich für ihre Zwecke adoptirt hat39).

Um also das Vorhandensein des Spiralenmotivs in der altegyptischen
Kunst zu erklären, bedarf es keineswegs des Volutenkelchs der Lotus-
blüthe als Ausgangspunktes, sondern wir dürfen dasselbe ebenso wie
das Zickzack, die koncentrischen Ringe (welche Motive Goodyear aller-
dings beide auf die Lotusblüthe zurückführt), das Schachbrettmuster
u. s. w. als geometrische Motive einer von früherher überkommenen
Schmückungskunst ansehen, als welche dieselben Motive in den
zweifellos geometrischen Ornamentstilen anderer, bei rudimentären
Kunstzuständen verbliebener Völker, insbesondere der Maori auf Neu-
seeland entgegentreten. Und das Gleiche gilt von dem Postulat der
Zwickelfüllung, das wir in der Kunst der Neuseeländer in ähnlicher
Weise beobachtet sahen, wie in der altegyptischen Kunst. Zum Beweise
dessen wurde bereits auf die äusserste Windung in Fig. 28 hingewiesen.
Man beobachte ferner in Fig. 31 und 32 die Tätowirungen der Nase;

39) Auch darin ist diesem Autor zuzustimmen, wenn er die „Erfindung
der Formen zunächst in der künstlerischen Anlage des Menschen und in dem
Drange nach einer Bethätigung des Kunsttriebes begründet“ ansieht, doch
geräth derselbe wenige Zeilen darauf in Widerspruch mit dem eben Gesagten
wenn er das Citat: „geometric ornament is the offspring of technique“ in
seiner absoluten Fassung sich zu eigen macht.
Riegl, Stilfragen. 6
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[81/0107] 1. Egyptisches. über den ganzen Erdball Verbreitung gefunden haben. Uebrigens wird Niemand, der sich für die Geschichte des geometrischen Ornaments interessirt, den Stübel’schen Aufsatz ohne Interesse und Nutzen lesen. Von anderer Seite hat Prof. A. R. Hein in Wien in einer jüngst erschienenen Schrift über „Mäander, Kreuze, Hakenkreuze und ur- motivische Wirbelornamente in Amerika“ (Wien, A. Hölder, 1891) den in Rede stehenden Gegenstand berührt, indem er darauf hinwies, dass einer ganzen Reihe weitverbreiteter primitiver Ornamentformen (z. B. dem Hakenkreuz) die Tendenz innezuwohnen scheint, den Begriff des Rotirens, d. h. Sichbewegens im Kreise sinnfällig zu machen. Diese Tendenz liegt augenscheinlich auch der Spirale zu Grunde, und es ist völlig denkbar, dass der Symbolismus gewisser Völker und Zeiten ähn- liche Vorstellungen mit der Spirale verknüpft hat. Dass aber der An- stoss zur ersten Entstehung des Spiralenmotivs nach dieser Seite zu suchen wäre, glaubt wohl auch A. R. Hein (der übrigens die Spirale als solche in seine Betrachtung nicht einbezogen hat) nicht annehmen zu sollen, da er es (S. 28) ausdrücklich als seine Ueberzeugung be- zeichnet, dass die Symbolik die schon vorhandenen (geometrischen) Formen lediglich für ihre Zwecke adoptirt hat 39). Um also das Vorhandensein des Spiralenmotivs in der altegyptischen Kunst zu erklären, bedarf es keineswegs des Volutenkelchs der Lotus- blüthe als Ausgangspunktes, sondern wir dürfen dasselbe ebenso wie das Zickzack, die koncentrischen Ringe (welche Motive Goodyear aller- dings beide auf die Lotusblüthe zurückführt), das Schachbrettmuster u. s. w. als geometrische Motive einer von früherher überkommenen Schmückungskunst ansehen, als welche dieselben Motive in den zweifellos geometrischen Ornamentstilen anderer, bei rudimentären Kunstzuständen verbliebener Völker, insbesondere der Maori auf Neu- seeland entgegentreten. Und das Gleiche gilt von dem Postulat der Zwickelfüllung, das wir in der Kunst der Neuseeländer in ähnlicher Weise beobachtet sahen, wie in der altegyptischen Kunst. Zum Beweise dessen wurde bereits auf die äusserste Windung in Fig. 28 hingewiesen. Man beobachte ferner in Fig. 31 und 32 die Tätowirungen der Nase; 39) Auch darin ist diesem Autor zuzustimmen, wenn er die „Erfindung der Formen zunächst in der künstlerischen Anlage des Menschen und in dem Drange nach einer Bethätigung des Kunsttriebes begründet“ ansieht, doch geräth derselbe wenige Zeilen darauf in Widerspruch mit dem eben Gesagten wenn er das Citat: „geometric ornament is the offspring of technique“ in seiner absoluten Fassung sich zu eigen macht. Riegl, Stilfragen. 6

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/107>, abgerufen am 22.11.2024.